Geschichte lässt sie nicht los. Stück um Stück erzählt die Leipziger Autorin Cornelia Lotter all jene Geschichten aus der gar nicht so fernen deutschen Vergangenheit, die in der üblichen Geschichtsschreibung meist sträflichst ausgeblendet wurden.

Denn es ist ja nicht die Königs- und Befehlshaber-Ebene, auf der die Menschen leiden. Die Schicksale der Frauen verschwinden meistens sowieso, als spielten sie keine Rolle, wenn Männer mal wieder glauben, „Weltgeschichte“ machen zu müssen.

So wie die deutschen Faschisten, als sie 1939 erst Polen überfielen und dann 1940 auch die Niederlande, Belgien und Frankreich. Auch um Elsass und Lothringen wieder in das Deutsche Reich einzugliedern wie 1871.

Womit auch die Heldin dieses neuen Buches von Cornelia Lotter in die Mühlen der Geschichte gerät, anfangs noch nicht ahnend, was da auch auf ihre Heimat zukommen würde, als Hitlers Wehrmacht Polen überrollte.

Denn noch herrscht Frieden auf dem Weingut ihres Vaters. Frankreich scheint mit der Maginot-Linie bestens gewappnet gegen einen möglichen Überfall aus dem Osten.

Doch als dann die deutschen Panzerverbände über die Ardennen rollen, entpuppt sich der vermeintliche Schutz als überhaupt nicht hilfreich. Und auch in Colettes Heimat tauchen die deutschen Truppen auf, scheinbar ganz friedlich und manierlich.

Ein deutscher Major knüpft Kontakt zu Colettes Vater und scheint erst nur am leckeren Wein interessiert, macht aber am Ende ein Angebot, das die Winzertochter nicht auszuschlagen wagt, auch wenn der Zweifel in ihr nagt: Er nimmt sie als Sekretärin mit nach Paris, wo er sie in einem Hotel einquartiert. Bald weiß sie, dass sie für die deutsche Abwehr arbeitet. Aber sie scheint geschützt.

Verlogener Friede

Wäre da nicht die Wirklichkeit eines Krieges, der in den Menschen das Schlimmste zum Vorschein bringt, was in ihnen steckt. Und diese ganz spezielle deutsche Diktatur, die ihren Rassismus in Gesetze gegossen hat und die Menschenrechte mit Stiefeln tritt. Was anfangs noch wie ein friedliches Paris aussieht, das sich mit den Deutschen arrangiert hat, zeigt auch für Colette immer deutlicher seine dunklen Seiten.

Denn während in den Hotels der Besatzer die Vorräte bestens gefüllt sind, erleben die Bewohner der Stadt immer mehr Einschränkungen, wird der Franc abgewertet und gibt es immer weniger zu kaufen. Marken werden ausgegeben, der Hunger greift um sich. Und immer mehr Menschen werden verhaftet, in Lager verschleppt. So formiert sich der Widerstand.

Mit dem Colette eigentlich nichts zu tun haben will, auch wenn sie weiß, dass ihr Bruder Philippe in den Untergrund gegangen ist. Aber in Zeiten, da Lug und Trug, Gewalt und Bosheit herrschen, ist gar nichts sicher. Spätestens in dem Moment, in dem Colette weiß, dass sie schwanger ist. Wer hilft ihr da? Wer kann ihr helfen?

Eine alte Freundin der Köchin vom Weingut ihres Vaters vielleicht. Schon hier taucht eines jener Motive auf, die deutlich machen, warum Cornelia Lotter derart systematisch in die Geschichte eintaucht und Frauen ins Zentrum ihrer Erzählungen stellt. Frauen, die meist als erste in existenzielle Nöte geraten, wenn Männer anfangen, Normen zu setzen und Feinde zu machen.

Doch als sie die Chance sieht, das Kind vielleicht abtreiben zu können, gerät sie mitten in eine Aktion des Widerstands. Ein Militärlaster explodiert, viel zu spät denkt Colette an Flucht, wird eingesammelt, kommt ins Gefängnis und wird verhört und verliert ihr Kind.

Doch in Diktaturen gibt es keine Rechtsmittel. Wenn die Verhörführer der Meinung sind, dass jemand zum Widerstand gehört, ist er des Todes, kann bestenfalls mit Verschickung ins Konzentrationslager rechnen. Es sei denn, es tut sich noch ein schäbiger Deal auf, den die stolze junge Frau eigentlich nicht eingehen will.

Doch welche Wahl hat sie? Direkt in eins der berüchtigten deutschen KZs gehen oder sich in einem der Bordelle verdingen, die die Deutschen für ihre „Fremdarbeiter“ eingerichtet haben, um sie bei Laune zu halten?

Leipzig, Moritzstraße, Kochstraße

Längst läuft in der deutschen Rüstungsindustrie nichts mehr ohne die Arbeiter aus den besetzen Gebieten. Aus Frankreich wurden sie noch ganz offiziell angeworben. Und viele Franzosen nahmen das faule Angebot auch deshalb an, weil die französische Wirtschaft nach dem Einmarsch der Deutschen regelrecht zusammengebrochen war.

Das beschreiben die ersten beiden Teile von Cornelia Lotters „Der Dirnenblock“. Handelt der erste Teil noch von ihrem Leben in Frankreich und dem Verhängnis, das Colette in Paris einholt, führt der zweite Teil direkt nach Leipzig, erleben wir mit, wie Colette in einem extra für die französischen „Fremdarbeiter“ eingerichteten Bordell als Prostituierte arbeiten muss, noch aufgefangen und umsorgt von den Frauen, die mit ihr aus Frankreich gekommen sind.

Und es wirkt wie eine Befreiung, als sie nach einem halben Jahr aus dem Bordell in der Moritzstraße (der heutigen Manetstraße) ausziehen kann und eine Arbeit als Sekretärin in der Gasmesser-Fabrik „Schimer, Richter & Co.“ in der Kochstraße bekommt.

Endlich wieder Herrin über den eigenen Körper. Die Sache könnte noch eine gute Wendung nehmen. Aber wir sind im Leipzig des Jahres 1941 und auch in der nun zum Rüstungsbetrieb gewordenen Fabrik am Connewitzer Kreuz, in dem nicht nur „Fremdarbeiter“ schuften, sondern auch zur Zwangsarbeit gezwungene sowjetische Kriegsgefangene, herrscht längst der Herrenmenschenton des Nazireiches.

Und am Ende weiß Colette auch nicht, ob es einfach nur Rache und ein abgekartetes Spiel war, das sie jetzt wieder ins Gefängnis bringt. Wieder mit einem dieser verlogenen Angebote der Gestapo, sie könne doch auch für sie spitzeln und denunzieren.

Doch ihre Seele an diese Teufel zu verkaufen, ist sie nicht bereit.

Bekannter Ort: Riebeckstraße 63

Es ist die Urfrage in jeder Diktatur: Riskiert man seine Menschenwürde und wird zum Erfüllungsgehilfen der Täter? Oder riskiert man sehenden Auges, dass sie einen genau dafür zerstören und auslöschen werden?

So ganz beiläufig wird die Menschenverachtung und die Eiseskälte der Diktatur deutlich, die Mord und Vertreibung in Gesetze gegossen hat und alles Menschliche nicht nur misstrauisch beäugt, sondern auszumerzen versucht.

Hier hat Colette wirklich niemanden mehr, der sie schützen kann. Dieses Leipzig im Kriegsjahr 1941 ist ein kaltes, graues und schäbiges Leipzig.

Und in einer Arrestzelle in der Riebeckstraße 63, der alten Leipziger Arbeitsanstalt, weiß Colette am Ende, dass jetzt noch viel schlimmere Zeiten auf sie zukommen, die dann in Teil 3 & 4 im Folgeband erzählt werden. Das Buch werden wir in nächster Zeit an diese Stelle ebenfalls besprechen.

Mit dem Schicksalsort Riebeckstraße 63 knüpft Cornelia Lotter an ihre anderen Bücher an, in denen sie die Drangsale und Finsternisse, die Frauen im Leipzig der Nazizeit erleben mussten, erzählte. Hier ritzt Colette eine Gedichtzeile von Baudelaire in die Zellenwand, ohne zu wissen, ob sie aus diesem Todesstrudel irgendwann wird heil entkommen können.

„Mehr konnte sie nicht tun. Außer überleben und standhalten. Damit sie sich am Ende dieses Krieges noch im Spiegel ansehen konnte.“

Denn das ist letztlich die Frage, um die sich alle Bücher von Cornelia Lotter drehen: Wie behält man seine Würde in solchen Zeiten? Und wie schaffen es vor allem Frauen, die von gewalttätigen und rücksichtslosen Männer in solchen Zeiten erst recht nur als Objekt behandelt werden?

Cornelia Lotter Der Dirnenblock BoD, Norderstedt 2022, 13,90 Euro.

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