Seit dem 24. Februar 2022 ist die Welt eine andere. So schien es. Und manche glauben das bis heute. Andere wundern sich, wie sie das nicht haben sehen können. Und versuchen dem Talkshow-Publikum einzureden, das habe nun wirklich keiner vorhersehen können. Was schlicht nicht stimmt. Aber die Illusionen über Russland und seine Herrscher sind allesamt noch lebendig in Deutschland. Während Geschichtskenntnisse eher dünn gesät sind.

Oder lieber verdrängt werden, damit die Geschäfte laufen. Denn genau so hat Deutschland in den vergangenen 30 Jahren Russland-Politik betrieben: Ganz im Sinn einer Wirtschaft, der es immer nur um billige Rohstofflieferungen und den Absatz ihrer Produkte ging. Das hat nichts mehr mit der einst von Willy Brandt begonnenen Politik des „Wandels durch Annäherung“ zu tun. Auch wenn es so aussah und so verkauft wurde.

Bis hin zur Pipeline „Nordstream II“, mit der die Abhängigkeit von Russland noch einmal verstärkt werden sollte. Als wäre Russland ein verlässlicher Handelspartner wie jeder andere. Was es nicht ist und nicht sein kann. Denn während in Deutschland das Primat der Wirtschaft die Politik bestimmt und immer wieder im Interesse der „Deutschland AG“ verzerrt, wie der Wirtschaftsfachmann Marcel Fratzscher vom DIW jüngst erst wieder feststellte, bestimmt in Russland eine kleine Elite, wie wirtschaftliche Abhängigkeiten auch als politische Druckmittel eingesetzt werden.

Der rein durch Wirtschaftsinteressen bestimmte Blick Deutschlands auf Russland hat auch die politischen Eliten blind gemacht für die tatsächlichen Machtverhältnisse in Russland. Und damit das, was man letztlich als „russische Interessen“ überhaupt wahrnehmen kann. Interessen, die eng verknüpft sind mit einem ziemlich alten Selbstverständnis der russischen Eliten vom russischen Imperium. Denn das steckt nach wie vor im heutigen Russland, auch wenn sich deutsche Politiker jahrelang von der „einnehmenden“ Art eines Wladimir Putin haben einwickeln lassen und ihm gar glaubten, Russland wäre eine lupenreine Demokratie. Aber das ist es nicht.

Das unsichtbare Imperium

Koenen verändert den Blickwinkel, macht seine Leser auch mit vielen russischen Autoren bekannt, die nicht unbedingt zum Schullesestoff gehören. Autoren, die sich seit 200 Jahren immer wieder mit den diversen russländischen Autokratien beschäftigt haben. Mit Betonung auf russländisch.

Denn Koenen merkt auch an, was meist im Verborgenen bleibt, wenn von Russland gesprochen wird: Dass die Russen selbst in Russland eine Minderheit sind und auch das heutige Russland ein Vielvölkerstaat ist. Zusammengehalten durch einen Zentralstaat und ein einziges Machtzentrum, in dem alles entschieden wird. Wohin auch alle Gelder fließen. Und daran haben auch die russischen Revolutionen nichts geändert. Sie haben nur die jeweils herrschenden Eliten ausgetauscht, an den Machtstrukturen aber wenig geändert.

Sodass auch heute noch (oder wieder) nur eine kleine Elite über das Land herrscht, getragen und gestützt durch die Institutionen der Macht: Polizei, Armee, Geheimdienst. Drei Institutionen, welche auch die vorhergehende Sowjetzeit beherrschten, als sich eine abgeschottete Parteinomenklatura an der Macht festklammerte und darauf angewiesen war, dass das Volk, das schweigende, still hielt, während der Machtapparat für die nötige Einschüchterung sorgte.

Und zwar mit brutalen Methoden. Weshalb die Analyse der Stalin-Zeit in Koenens Buch eine zentrale Rolle spielt. Samt der sogenannten „Tauwetter“-Periode, in der die Zentralmacht scheinbar zu erodieren drohte und die Tragödie der stalinschen Vernichtungsorgien überhaupt erst einmal benannt werden konnte. Die bis heute wie ein Trauma über dem Land liegt. Denn was nicht wirklich aufgearbeitet wird, wird auch nicht bewältigt. Geschweige denn verstanden.

Ein Mann des Apparates

Und natürlich haben viele Beobachter und Besucher Russlands das Flair dieses Landes vor Augen, das nach der Öffnung unter Gorbatschow entstanden ist. Das auch bis in die jüngere Gegenwart zu besichtigen war – es entstanden unabhängige Medien, es begann die Aufarbeitung des Stalinismus. In Teilen modernisierte sich das Land. Aber nur in Teilen.

Denn was unter Boris Jelzin nicht gelang, war der Umbau des Staatsapparates. Der hatte seine Macht nicht verloren, nur seine Bezeichnungen geändert. Und der ehemalige KGB-Offizier Wladimir Putin war nicht der einzige, der dem einstigen Imperium mit seiner riesigen Einflusssphäre nachtrauerte.

Es war dieser Staatsapparat, der Putin dann als Ministerpräsident installierte und zum Nachfolger für den geschwächten Präsidenten Jelzin machte. Ein unbeschriebenes Blatt für außenstehende Beobachter, ein Mann scheinbar ohne Gesicht und Kontur. Sodass ihm auch westliche Beobachter nicht zutrauten, dass er den alten autokratischen Staat mit modernen Mitteln wieder herstellen würde und spätestens ab 2005 daran gehen würde, jede Opposition im Land auszuschalten.

Dass er bereit war, zu den brutalsten Mitteln zu greifen, um abtrünnige Regionen botmäßig zu machen, war schon im zweiten Tschetschenienkrieg zu erleben, den Putin als Befehlshaber verantwortete. Wer wie Koenen genau hinschaut, sieht die blutige Spur, die sich durch die Regierungszeit Putins zieht – von den militärischen Aktionen in Georgien über die Ermordung Anna Politkowskajas und Boris Nemzows bis zur Annexion der Krim und von Teilen der Ostukraine 2014, die ganz und gar nicht zufällig passierten.

Die Rückkehr des Imperiums

Koenen zeigt, wie Wladimir Putin und seine Mitverschworenen die alten Ideen eines imperialen Russlands mit seinem „Bedürfnis“ nach einer eigenen Sicherheitszone wieder hoffähig gemacht haben und wie diese Ideen auch wieder in Reden und Manifeste Einzug hielten. Da spielt dann auch Putins Rückgriff auf den Heiligen Wladimir eine Rolle.

Auf einmal hat man es wieder mit den Visionen des „Heiligen Russland“ zu tun, das alle seine Nachbarvölker dominiert und die Minderheiten im eigenen Land kleinhält und zu russifizieren versucht. Und da ist es kein Zufall, dass sich die Moskauer Politik seitdem wieder massiv einmischt in die Politik der einst zur Sowjetunion gehörenden Republiken, die sich 1990/1991 alle selbstständig gemacht haben.

Und die Ukraine als Ziel der Wiedereroberung steht seit Jahren ganz oben auf der Liste. Die Gründe dafür findet man in Putins ganz persönlichem Geschichtsverständnis, das Koenen quellenreich sichtbar macht. Ein Geschichtsverständnis, das auch die Angst vor dem unberechenbaren Volk impliziert. Aber auch die Angst vor dem, was so gern als „der Westen“ bezeichnet wird, dem man dann für alle Unbill der Zeit die Schuld zuschiebt. Schuld sind immer die anderen.

Schon gar im Sinne eines Großmachtdenkens, das nicht loslassen will von den alten Bildern der Macht und der Einflusssphären. Da liegt der Vergleich mit dem Deutschland der Hitlerzeit nahe, den ja viele Historiker ziehen. Und tatsächlich gibt es frappierende Ähnlichkeiten zwischen der NS-Ideologie und dem stalinschen Imperialismus.

Doch von Ähnlichkeiten darf man sich nicht täuschen lassen, so Koenen. Wobei er insbesondere Timothy Snyders Buch „Bloodlands“ würdigt, in dem Snyder insbesondere die Massenmorde in jenem Raum untersucht, in dem das russische/sowjetische Imperium genauso rücksichtslos vorging wie das deutsche. Und die Ukraine gehörte von Anfang an dazu. Die staatlich ausgelöste Hungerkatastrophe Holodomor hat sich tief in die Erinnerung der Ukrainer eingebrannt.

Und dass die NS-Kommandos hier so unbeschränkt wüten konnten, hat auch damit zu tun, dass Stalins Politik die Ukraine schon vorher regelrecht ausgeblutet hat.

Eine Legende für den Machterhalt

Den einen wie den anderen ging es dabei vor allem um den Zugriff auf die wertvollen schwarzen Böden und reichen Ernten, die Rohstoffe und die Industrie in der Ukraine. Skizze um Skizze wird deutlich, wie sehr das imperiale Denken die russische und sowjetische Politik bestimmt hat und heute die russländische ebenfalls wieder bestimmt.

Mit absehbar fatalen Folgen. Denn Russland droht hier die nächste militärische Niederlage und damit die Destabilisierung einer kleinen Machtelite, die ihre Macht nur durch Einschüchterung, Propaganda und den rigiden Missbrauch von Polizei und Justiz aufrechterhalten kann.
Es ist eine Elite, die dieses imperiale Denken braucht, um ihren Zugriff auf die Macht zu rechtfertigen. Was aber passiert, wenn die einberufenen Soldaten die Nase voll haben, ihre Mütter und Väter sich das nicht mehr gefallen lassen?

Wie labil so eine Machtkonstellation ist, hat Putin ja selbst beobachten können, 2013 beim Euromaidan, als sein treuer Vasall Janukowitsch vertrieben wurde und die Ukrainer endgültig begannen, sich aus dem Bannkreis Moskaus zu befreien und eigene, nach Westen orientierte Wege zu gehen. Und gleichzeitig ihre eigene Würde und Freiheit zurückzugewinnen. Was Folgen hat – bis hin zu der Tatsache, dass die Moskauer Führungsriege den Widerstandsgeist der Ukrainer und Ukrainerinnen im Februar 2022 völlig unterschätzte.

Was auch damit zu tun hat, dass in diesem kleinen Führungszirkel in Moskau jegliches Verständnis fehlt für eine Gesellschaft, in der es Meinungsstreit gibt, Gewaltenteilung und ein Bild freier Selbstbestimmung, das im Kanon eines autoritär durchherrschten Landes keinen Platz hat. Auch wenn Putin – im Verein mit anderen Autokraten in der Welt – durchaus der Meinung sein kann, dass ihre Art des Regierens (der â€žgelenkten Demokratie“) die bessere und zukunftsträchtige sei und „der Westen“ auf dem absteigenden Ast wäre.

Bilder aus der Zarenzeit

Aber gerade im Moment der Gefahr rauften sich auch die zerstrittenen europäischen Staaten zusammen, organisierten Hilfs- und Waffenlieferungen für die Ukraine. Und auch die Amerikaner waren wieder mit im Boot. Denn auch wenn es so explizit selten formuliert wurde, war den Regierungen und den meisten Bürgern dort sehr wohl bewusst, dass es hier um eine elementare Frage der Freiheit geht. Auch der eigenen.

Denn Putins imperiale Träume schließen mindestens auch die anderen ehemaligen Staaten des Ostblocks mit ein. Manch einer seiner Apologeten will gar ganz Europa der russischen Einflusssphäre unterwerfen.

Und auf einmal wird deutlich, dass man es mit ganz ähnlichen Phänomenen zu tun hat, die schon die russische Politik der russischen Zaren im 19. Jahrhundert bestimmt haben, als es auch schon darum ging, die baltischen Staaten, Finnland, Polen, die Ukraine und die Krim unter russisches Regiment zu zwingen und auf der Landkarte praktisch verschwinden zu lassen.

Pläne, die beim ersten – gescheiterten – Polenfeldzug von 1920 ebenso wieder aufschienen wie 1939, als Stalin den Hitler-Stalin-Pakt umsetzte und in Polen einmarschierte und im selben Atemzug Finnland überfiel. Je grundlegender Gerd Koenen diese imperiale Geschichte Moskaus zeigt, umso deutlich wird, wie sehr dieses imperiale Denken die Entwicklung Russlands zu einem demokratischen Staat bis heute blockiert. Und damit auch jede wirklich tragende Integration in die europäische Gemeinschaft, wie sie einst Gorbatschow vor Augen hatte.

Fatale Fehleinschätzungen

Wie das alles ausgeht, kann Koenen natürlich auch nicht sagen, nur dass das „ukrainische Abenteuer“ für Russland am Ende teuer werden wird, egal, wie es ausgeht. Deutlich wurde ja längst, wie fatal die Fehleinschätzungen jener kleinen Elite waren, die sich um den 1999 von den Silowiki installierten Wladimir Putin geschart und den Krieg gegen die Ukraine seit 2014 forciert hat – geblendet von den scheinbaren Erfolgen in der Ostukraine, auf der Krim und im zerbombten Syrien.

Man möchte wieder eine Weltmacht sein. Aber man unterschätzt gnadenlos den Willen nicht nur der Ukrainer, sondern auch der Balten, der Finnen, Tschechen und Slowaken, die 1990 so schwer errungene Freiheit und Selbstständigkeit zu bewahren und garantiert nicht wieder zum Vasall eines rücksichtslosen Moskaus zu werden, das aus seinen imperialen Träumen einfach nicht erwachen will.

Koenen erinnert dabei an eine Verszeile des polnischen Dichters Adam Mickiewicz, die er den hingerichteten und verbannten russischen Dekabristen widmete und in der alles steckt, was heute auch die Ukrainer antreibt: „Für eure und für unsere Freiheit“.

Auf einmal hat man ein großes Panorama der osteuropäischen Geschichte vor sich, in der kleinere Völker immer wieder mit Mut und Ausdauer um ihre Selbstständigkeit und ihre Freiheit kämpften. Zeitweilig gegen deutsche Usurpatoren. Aber die meiste Zeit gegen ein Imperium, das sich nicht auf das eigene Land und die eigenen Untertanen beschränken wollte.

Koenen ist sogar zuversichtlich, dass auch die Russen selbst sich das nicht ewig gefallen lassen und das auf tönernen Beinen stehende autokratische System in sich zusammenbricht. Auch wenn viele dieser mutigen Dissidenten auch schon vor dem Ausbruch des Ukraine-Krieges Russland verlassen haben und von außen versuchen, an der Zensur vorbei realistische Nachrichten in das Land zu senden, das jede Initiative, die dem Willen der Machthaber widerspricht, gleich zu ausländischer Agententätigkeit erklärt.

Ein Topos, den man aus seligen sozialistischen Zeiten nur zu gut kennt. Und der immer Vorwand war, die mutigsten und selbstbewusstesten Menschen so grausam wie möglich zu bestrafen.

Gerd Koenen „Im Widerschein des Krieges. Nachdenken über Russland“, C. H. Beck Verlag, München 2023, 20 Euro.

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