Ein Gespenst geht um. Es trägt verschiedene Namen: Straftat, Gewaltkriminalität, Messerangriff, Vergewaltigung, Terroranschlag – doch allen gemein ist die Angst, zum Opfer zu werden. Ob auf der Straße, auf dem Schulhof, beim Volksfest, im Park, in der U-Bahn: Man fühle sich nicht mehr sicher, heißt es oft. Selbstverteidigungskurse sind gefragt. Berechtigt? Die WELT-Reporter Philipp Woldin und Alexander Dinger suchen in ihrem Buch „Neue Deutsche Gewalt“ nach differenzierten Antworten.
Geht es um Kriminalität und Gewalt in der Bundesrepublik, sind die Fronten schnell klar: Manche sehen das Land am Abgrund und in Gewalt versinken – und wollen, wie die AfD, politisches Kapital aus geschürter Angst schlagen –, andere fahren den Beschwichtigungskurs: Deutschland sei so sicher wie nie, heißt es dann. Inmitten dieser Pole haben sich die WELT-Journalisten Philipp Woldin und Alexander Dinger in ihrem Buch auf die Spur der Gewalt begeben.
Zwischen Beschwichtigung und Alarmismus
Beide arbeiten zu Innerer Sicherheit und Kriminalität, haben Kontakt zu Behördenchefs, Lehrern, Sozialarbeitern, Politikern, Polizeibeamten, Straftätern, Opfern, Gewerkschaftern, Fachleuten. Manche sprechen nur vertraulich mit den Reportern, wollen ihre Namen nicht genannt wissen. Die Angst ist da, sich den Mund zu verbrennen oder ernsthaft Ärger zu kriegen.
Dabei, so die Autoren, sei es Zeit für eine ehrliche Debatte, die bislang mit wenig Substanz geführt wird: „Die weltanschaulichen Lager arbeiten mit sorgfältig ausgewählten Statements für die eigene Blase, nicht selten vermengt mit Unschärfen, Weglassungen und Halb-Wahrheiten“ (S. 12).
Während etwa TV-Moderator Jan Böhmermann laut Woldin und Dinger eine Statistik von 1993 umstandslos mit der von 2023 verglich und beschwichtigte, 1.299 Morden im Jahr 1993 stünden 2023 ja „nur“ 214 gegenüber, sprach AfD-Fraktionschefin Alice Weidel zeitgleich im Bundestag von Messerattacken, die jeden Tag durch „illegale Migranten“ stattfänden.
Böhmermann ließ laut Autoren allerdings einige Besonderheiten der 1993er-Statistik weg, die den hohen Zahlenwert erklären. Es gibt einen Rückgang der Morde, aber weniger drastisch, als der Satiriker suggeriert. Doch auch Alice Weidels populistische Behauptung lässt sich nicht erhärten: Eine bundesweit einheitliche Datenbasis zur Herkunft von Tätern, die zustechen, existiert nicht. Richtig sei erst einmal nur, dass Deutschland ein noch immer bestehendes Problem mit Messern hat.
Der wahre Kern der gefühlten Unsicherheit
Mit diesen Überlegungen gehen Woldin und Dinger der Gewalt in Deutschland in fünf Kapiteln auf den Grund. Kapitel eins stellt die Frage, wie sicher wir in der heutigen Bundesrepublik sind: Den Zahlen nach insgesamt deutlich mehr als in weiten Teilen der 1990er- und frühen 2000er-Jahre. Einem Mord oder Straßenraub zum Opfer zu fallen, war in vergangenen Jahrzehnten wahrscheinlicher. Deutschland steht nicht am Abgrund. Menschen neigen nicht zuletzt durch reißerische Berichterstattung und die tägliche Bilderflut auf Social Media, das Kriminalitätsgeschehen zu überschätzen.
Aber: Bestimmte Deliktgruppen der Gewaltkriminalität, so die Autoren, gehen seit einigen Jahren wieder nach oben. Die „gefühlte Unsicherheit“ vieler Bürger hat also, bei allen Gegenargumenten, einen realen Kern, auch wenn es für einen Langzeittrend noch zu früh sei. Zur Untermauerung ziehen Woldin und Dinger verschiedene Statistiken heran, darunter die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS).
Deren Schwächen – es werden z.B. nur Tatverdächtige erfasst, keine gerichtlich Verurteilten – stellen die Autoren dar. Dennoch sei die PKS neben ergänzender Dunkelfeldstudien die aussagekräftigste Annäherung an die Wirklichkeit der Gewalt in Deutschland. Abseits der Zahlen, die manches unterstreichen und anderes relativieren, begeben sich Woldin und Dinger immer wieder auf Spurensuche.
Dann ist der Leser mit an Orten, die wie Chiffren für tödliche Gewalttaten bis ins Jahr 2025 stehen: Brokstedt, Mannheim, Bad Oeynhausen, Solingen, Aschaffenburg, München. Die Thematik der Messerangriffe und -vorfälle wird nicht ausgespart, wo die Zahlen, bei aller Vorsicht, auf eine Verrohung und einen Anstieg hindeuten. Als Beispiel kommt Andreas Hollstein (CDU) zu Wort, der vor acht Jahren als damaliger Bürgermeister von Altena (NRW) wegen seiner Flüchtlingspolitik in einem Imbiss vom 56-jährigen Werner S. mit einem Messer bedroht und verletzt wurde.
Kriminalität und Zuwanderung im Blick
Gewalt, ob mit oder ohne Messer, ist keine Frage der Nationalität. Das stellen auch Woldin und Dinger klar, ebenso, dass die große Mehrzahl der Ausländer in Deutschland, zu denen unter anderem Asylbewerber zählen, völlig gesetzestreu lebt. Trotzdem falle in der PKS 2024 auf, dass Ausländer bei Taten wie Totschlag, Raub oder schwerer und gefährlicher Körperverletzung im Vergleich zu ihrem Anteil in der Gesellschaft überrepräsentiert seien und häufiger Gewalt einsetzten als Deutsche, erklären die Autoren. Darunter fielen auch Menschen, die erst seit Kurzem im Land leben.
Man muss es hier noch einmal klar sagen: Die PKS, auf die man sich beruft, hat diverse Lücken und Schwächen, ist anfällig für Fehler und Verzerrungen, wie das einer Statistik eben zu Eigen ist.
Und auch die zwei Autoren ordnen ein, dass die Zahl von Personen ohne deutschen Pass zugelegt hat, sie mithin auch vermehrt in der Tatverdächtigen-Statistik auftauchen. Oft sind sie männlich, jung und sozial zurückgesetzt, was generell einen Risikofaktor für Kriminalität markiert. Hinzu kommt, dass „fremd“ gelesene Menschen eher angezeigt werden. Eine Auseinandersetzung in einer Asylunterkunft wird viel wahrscheinlicher mit Polizeieinsatz und amtlicher Erfassung enden, als wenn Werner und Michael sich eine Schlägerei liefern und dann wieder vertragen.
Nicht zu vergessen die prekäre Situation in der Enge eines Asylheims, oft gepaart mit fehlender Bleibechance und Arbeitsverbot. Eine schwierige Sozialisation, traumatische Erfahrungen in Kriegsgebieten und auf der langen Flucht über Wüsten und Meere tun ein Übriges. Faktoren, die nie eine Entschuldigung für Radikalisierung und Straftaten sind, aber aufzeigen, wie dringend ein ernsthaftes Gegensteuern erforderlich wäre.
Oft bleibt es bei Schaufensterpolitik
Nur: Das scheint nicht in Sicht. Auf Terroranschläge wie in Solingen wird mit Gesetzesverschärfungen reagiert, die aber eher wie ärmliche Schaufensterpolitik wirken, solange Strukturen nicht reformiert sind. So arbeiten im föderalistischen Deutschland zahlreiche Sicherheitsbehörden und Institutionen auf Landesebene mit unterschiedlichen Systemen und ohne effektiven Datenaustausch nebeneinander her.
Im Extremfall mit tödlichen Folgen, wie nicht nur der traurige Fall Brokstedt zeigt: Funktionierende Kommunikation und mehr Einsatz hätten verhindert, dass der den Behörden längst bekannte Täter Anfang 2023 zwei junge Menschen in einer Regionalbahn erstechen konnte, kritisieren Woldin und Dinger in aller Deutlichkeit. Und betonen: Es brauche manchmal Grenzen, gerade bei Intensivtätern. Doch derzeit schaue der Staat zwar nicht weg, greife aber auch zu wenig durch, wo es nötig ist.
Prävention gehört neben Strafverfolgung dazu
Klar ist aber auch: Allein Repression löst die Probleme nicht. Das zeigt das Beispiel Schweden, das in einem eigenen Kapitel thematisiert wird. Jenseits blümeranter Bullerbü-Klischees kämpft der skandinavische Staat seit Jahren mit tödlicher Bandengewalt, oft in Randbezirken. Trotz einer Aufstockung von Polizeieinheiten wurden die Auswüchse der Brutalität dort zwar eingedämmt, die Wurzel des Problems aber nicht angepackt, weil ständig potenzielle Täter nachrücken.
Woldin und Dinger zitieren das Stockholmer Blatt Aftonbladet, das 2023 nach einer Serie an Schießereien mit sieben Toten für einen „Marshallplan“ zugunsten der Vororte plädierte: Ressourcen für Schule und Vorschule, Sozialdienste, die Schaffung von Infrastruktur, Arbeitsplätzen und Wohnraum.
Fatale Versäumnisse spielten hinein
Und zur ganzen Wahrheit in der Causa Schweden gehört, dass die Mehrheitsgesellschaft die wachsende Gefahr lange als Problem der Hochhaussiedlungen abtat und ignorierte. Ebenso, dass der betont liberale Staat eine Laissez-Faire-Politik betrieb, die Menschen wenig abforderte, sie nicht an die Hand nahm und trotz ausufernder Gewalt keine positive Aufstiegsvision für sozial abgehängte Gegenden entwarf, in denen sich Parallelstrukturen entwickelt hatten.
Das erinnert dann, bei allen Unterschieden, wieder fatal an Deutschland, wo bereits seit den achtziger Jahren viele Flüchtlinge etwa aus dem Libanon in die alte Bundesrepublik kamen, aber oft weitgehend alleingelassen wurden. Mangelnde Integrationsmöglichkeiten und Arbeitsverbote begünstigten, dass ein Teil von ihnen mitunter schwerstkriminell wurde. Nichts, was irgendwen von persönlicher Verantwortung befreit, aber ein mahnender Fingerzeig, dessen Beachtung in Zukunft neues Leid verhindern kann.
Verhältnisse wie Schweden oder auch die Niederlande mit ihren Drogenbanden hat Deutschland derzeit (noch) nicht, zitieren Woldin und Dinger einen Experten. Doch gewisse Parallelen treten zutage: Gewaltanstieg, unkontrollierte Social Media-Kanäle und Szene-Rapper als Katalysator, die Rauschgift und den kriminellen Lifestyle verherrlichen und junge Menschen anziehen. Dazu neuartige, schwer fassbare Täterstrukturen.
Ein neues Phänomen: „Subkulturelle Gewaltkriminalität“
Letzteres Phänomen stellen auch deutsche Ermittler häufiger fest, beispielsweise in Baden-Württemberg, wo sich Gruppen lose zusammentun, ohne dass eine feste Hierarchie, gemeinsame Abstammung oder ein eindeutiges wirtschaftliches Ziel sie dauerhaft zusammenhält.
Ein deutlicher Unterschied zu bekannten Kategorien wie dem, was sonst schlagwortartig unter „Rockern“, „Clans“, „Mafia“ oder „Organisierter Kriminalität“ verdichtet wird. Ermittler sprechen von „subkultureller Gewaltkriminalität.“ Aus diesen Kreisen stammte offenbar auch jener Täter, der im Juni 2023 einen Granatenanschlag auf eine Trauergesellschaft nahe Esslingen mit 15 Verletzten verübte.
Ganz ähnlich beschreiben Kriminalisten rechtsgerichtete Jugendbanden, die Versatzstücke aus Mackertum, Kampfsport, Rechtsrock und Nazi-Folklore aufnehmen. Ihnen fehlt es meist an ideologischem Tiefgang, nicht aber an Gewaltbereitschaft gegen Andersdenkende. Es fällt hier allerdings schwer, so räumt auch das Autorenduo ein, die Grenze zur politisch motivierten Kriminalität zu ziehen, die nach eigenen Mustern funktioniert.
Was die Autoren fordern
Am Ende ihres differenzierten und gut lesbaren Buches formulieren Woldin und Dinger ab Seite 159, was sich für sie in Zukunft ändern muss: Wir brauchen weniger neue Gesetze als vielmehr eine Reform der dysfunktionalen Sicherheitsstruktur im Land, einem bunten Flickenteppich, der besser organisiert und ausgestattet werden muss. Ansätze gibt es schon, wie in Form übergreifender Fallkonferenzen, die Frauen vor häuslicher Gewalt schützen sollen.
Zweitens fordern die Autoren eine entschlackte Asyl- und Einwanderungspolitik Deutschlands, die sich an Aufnahmekapazitäten orientiert und den Menschen, die dauerhaft bleiben werden, mehr Angebote zur möglichen Traumatherapie und Integration macht. Dazu müsste der Staat Erwartungen klarer formulieren und bei schweren Gewalttaten auch Abschiebungen ermöglichen.
Auf dritter Ebene plädieren Woldin und Dinger davor, Kinder und Teenager besser vor den Gefahren digitaler Plattformen zu schützen. Hier sehen die Autoren vor allem die EU in der Pflicht, die Macht ihres Marktes in Verhandlungen selbstbewusst zu nutzen, um effektiven Jugendschutz von den US-Konzernen zu fordern.
Notwendige Debatte
Man kann über die zugespitzten Thesen auch am Ende kontrovers diskutieren, sie ablehnen oder eigene Ideen haben, wie etwa verpflichtenden Unterricht zu digitaler Kompetenz in den Schulen.
Doch eines ist unstrittig: Dumpfer Alarmismus ist fehl am Platze, und wir sind, um es zu wiederholen, noch an keinem Abgrund in Deutschland, egal was irgendwelche politischen Marktschreier uns einreden. Aber: Über das große Thema Gewalt sollte in der Bundesrepublik mit aller Offenheit geredet werden.
Sonst wird die Lücke über kurz oder lang, vielleicht erfolgreich, von Lügnern und Populisten besetzt, die kein Interesse an einer realistischen Lösung haben, geschweige denn an Grautönen. Dass das nicht geschieht, dazu kann dieses Buch einen Beitrag leisten.
Philipp Woldin, Alexander Dinger „Neue Deutsche Gewalt. Wie unsicher unser Land wirklich ist“, C.H. Beck, München 2025, 18 Euro.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:














Keine Kommentare bisher