1913 erschütterte der Spionagefall um Oberst Alfred Redl die k.u.k.-Monarchie. Seit 1912 war er Generalstabschef des VIII. Armeekorps in Prag, also genau dort, wo ein gewisser Egon Erwin Kisch seine flotten Geschichten für die „Bohemia“ schrieb. Zuvor war er bis in die Spitze des Evidenzbüros aufgestiegen, das militärrelevante Daten sammelte. In Prag sorgte er durch sein verschwenderisches Leben für Aufsehen. Und irgendwie war Kisch dabei, als der Fall Redl zur medialen Sensation wurde. Nur wie?
Das ist eine Frage, die Martin Becker und Tabea Soergel bei diesem zweiten Kisch-Roman umgetrieben hat. Der erste war „Die Schatten von Prag“, in dem sie den „rasenden Reporter“ erstmals als Ermittler auftreten ließen. Als Ärgernis für den Prager Polizeichef. Denn dieser Kisch ermittelt mit seinen eigenen Methoden, ist auch nicht wirklich identisch mit seinem legendären Vorbild. Der historische Kisch hat wohl doch etwas anders gearbeitet.
Aber die Aufdeckung des Spionagefalls Oberst Redl steht ja tatsächlich in jeder Kisch-Biografie. Irgendwie muss er daran beteiligt gewesen sein. Der österreichische Generalstab hatte ja alles getan, um diesen Spionagefall doch irgendwie unter der Decke zu halten. Die Zensur war streng. Eine Zeitung, die über so einen für die Heeresführung so blamablen Fall berichtete, hätte ihre Existenz riskiert.
Nicht zu vergessen: Es ist das Jahr 1913, der Vorabend des Ersten Weltkrieges. Auf dem Balkan gärte es und die österreichischen Truppen standen dort bereit, jederzeit eingreifen zu können. Während der Rest Europas noch recht gelassen seinen Alltag lebte, drehten die österreichischen Militärs schon durch. Die labile Monarchie war durchwabert von Gerüchten, dass der Ausbruch des Krieges nur noch eine Frage der Zeit war. Da passte so ein eklatanter Spionagefall so überhaupt nicht.
Wenn Kisch seine Geschichten erzählt
Die Legende geht nun so, dass Kisch über einen seiner Spielerkollegen beim DBC Sturm Prag den Hinweis auf die Durchsuchung von Redls Wohnung in Prag bekommen hatte und das mit der Zeitungsmeldung über den unerwarteten Freitod des Obersts in Verbindung brachte. Und weil eine direkte Berichterstattung von der Zensur kassiert worden wäre, veröffentlichte die „Bohemia“ das Ganze als Dementi. So hat es Kisch wohl erzählt.
Nur: Es scheint nicht zu stimmen. „Wir haben ‚Bohemia‘-Ausgaben wieder und wieder durchblättert, Archivare befragt, in historischen Zeugnissen gestöbert“, schreiben Becker und Soergel. „Doch das von Kisch vielbeschworene ‚Dementi‘ existiert schlichtweg nicht. Kisch hat es sich im Nachhinein ganz offenkundig ausgedacht. Mag sein, dass Kisch seinen Anteil an der öffentlichkeitswirksamen Darstellung der Spionageaffäre hatte. Seinen eigentlichen Geniestreich aber hat es nie gegeben.“
Wie war es also wirklich? Oder wie hätte es gewesen sein können? In ihrem neuen Kisch-Roman jedenfalls lassen die beiden ihrer Fantasie freien Lauf, lassen auch die Personage wieder auftreten, die schon im ersten Band um den unermüdlichen Reporter der „Bohemia“ herumschwirrte.
Was nicht ganz unwichtig ist, denn Lenka und Brodesser halten Kisch nicht nur immer wieder den Rücken frei, sie helfen ihrerseits mit, die Vorfälle in Prag aufzuklären, allen voran die Feuer, die die Stadt in Atem halten – angefangen mit dem Brand auf dem Vergnügungsdampfer, auf dem Oberst Redl eine große Party geschmissen hat. Während Kisch eher auf wilden Spuren unterwegs ist, weil er Redl schon früh verdächtigt.
Praktisch von Berufs wegen. Seine Thesen sind meist schräg und er kennt auch keine Scheu, den mächtigen Mann mit seinem Verdacht direkt zu konfrontieren.
Kisch klingelt an Türen
Es ist eben ein eigener Kisch, den Becker und Soergel hier entwickelt haben, ein von seinem eigenen Entdeckergenie völlig überzeugter Bursche, der nachts durch die Prager Kneipen streift und Kontakte sucht zu Leuten, die etwas wissen könnten. Und manchmal weiß ja einer was, irgendein subalterner Bursche wie der Schlosser, mit dem Kisch in einer Mannschaft spielte und der ihm den Tipp mit der durchsuchten Wohnung gab. Auch das eine Geschichte, die mittlerweile bezweifelt wird.
Aber Kischs Artikel leben nun einmal von Geschichten, von seiner Beobachtungsgabe und seinem Talent, sie richtig farbenreich auszuschmücken. Und geschrieben hat er über den Fall Redl ja mindestens einmal. „Oberst Redl in Zahnbehandlung“ heißt dieser Beitrag, in dem Kisch ein Stück von Redls Prager Leben aufdeckt.
Übrigens ein Artikel, in dem er schildert, wie er zu solchen Geschichten kam: Man geht einem Gerücht nach, klingelt an Türen, fragt sich durch und hat am Ende tatsächlich Glück, wenn man einen redseligen Assistenten antrifft, der einem ezählen kann, wie sich der Oberst Redl im „Zahnambulatorium“ die Zähne richten ließ.
Oft genug besteht Journalismus einfach aus solchen kleinen Geschichten und nicht aus dem großen Scoop, auf den viele Journalisten so sehnsüchtig warten. Oder dem Großen Karpfen, als der die Aufdeckung der Redl-Story durch den europäischen Blätterwald fegte. Und irgendwie muss Kisch daran ja eine Aktie gehabt haben.
Vielleicht war es eben nicht der fußballspielende Schlosser, der ihm den Tipp gab, sondern jemand, der viel mehr wusste über das dubiose Treiben Redls, auch über seinen Geheimnisverrat. Manchmal ist es auch einfach jemand aus dem Behördenapparat, der die Nase voll hat davon, dass so eine brisante Geschichte einfach unter den Teppich gekehrt werden soll.
Man weiß es nicht.
Der allmächtige Oberst Redl
Also bleibt fantasivollen Autorinnen und Autoren jede Menge Raum zur Spekulation, zum Erfinden abenteuerlicher Handlungsstränge rund um den umtriebigen Lokalreporter Kisch, der sich ganz sicher ist, jetzt einen richtig dicken Fisch an der Angel zu haben. Nur die nötigen Puzzlesteine und Beweise fehlen ihm.
Und da es eben Kisch ist, beschränkt er sich nicht nur auf das schöne Prag bei seiner Suche, sondern landet mit Brodesser am Ende gar in Wien, direkt dort, wo Redl gerade dabei ist, sich zu verraten und am Ende sein Leben zu finalisieren. Auch wenn es Kisch nicht vergönnt ist, direkt dabei zu sein.
Dass die Feuer, die Prag nun schon seit Tagen in Aufruhr versetzen, am Ende gar nichts mit Redl zu tun hatten, klärt sich auch noch auf. Obwohl im Grunde bis zum Schluss offen bleibt, was Redl in seinem Allmachtswahn alles inszeniert hat. Immerhin lässt er Kisch als ausgemachten Gegenspieler sogar tagelang von 20 Beschattern begleiten, scheint also eine unheimliche Machtfülle zu haben. Oder ein übersteigertes Bewusstsein seiner eigenen Möglichkeiten. Ein echtes Geheimdienstgenie oder ein Mann, der längst schon den Boden unter den Füßen verloren hat.
Zeitendämmerung
Es geht auf jeden Fall sehr abenteuerlich zu. Kisch schafft es trotzdem immer wieder, die Verfolger abzuschütteln und auf geheimnisvollen Wegen zu neuen Informationen zu kommen. Auch wenn er nicht verrät, wie er es getan hat. Und ein Abschied liegt natürlich über allem. Ein doppelter. Denn eigentlich ist Kisch längst auf dem Absprung nach Berlin, wo er mehr Möglichkeiten hat, als Reporter wahrgenommen zu werden als im vertrauten Prag.
Gleichzeitig liegt der drohende Krieg wie ein Schatten über allem. Immerhin ist Kisch – bevor er sich auf die Redl-Geschichte stürzte – sogar auf den Balkan gefahren, um dort das Treiben der österreichischen Truppe zu beobachten. Das hat der richtige Kisch übrigens auch getan. Vielleicht sogar ahnend, dass nicht nur der Krieg unausweichlich war, sondern dass er selbst dann auch würde in Uniform gesteckt werden.
Aber wie gesagt: In dieser Geschichte ist es noch Zukunftsmusik. Kisch landet – noch klassisch in der Variante des „Dementi“ – seinen Scoop und wird europaweit bekannt. Aber als der Tag der Abreise näher rückt, lässt er trotzdem den Kopf hängen. Auch stellvertretend für das Autorenduo, denn dessen Kisch-Romane leben nun einmal von der besonderen Atmosphäre der Goldenen Stadt. Da will einer nicht weg, auch wenn er weiß, dass er muss.
Martin Becker, Tabea Soergel „Die Feuer von Prag. Kisch ermittelt“, Kanon Verlag, Berlin 2025, 24 Euro.
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