Manche werden berühmt, manche scheitern. Andere werden gar nicht wahrgenommen oder leben ein Leben am Rand. Und das hat nichts mit ihren Talenten und Begabungen zu tun. Nur mit all den Chancen, die sie im Leben nicht bekommen haben. Wir leben in einer Gesellschaft des schönen Scheins, der Lautstarken und Selbstverliebten. Wie schreibt man da über einen Menschen, der letztlich auch daran scheiterte, dass er sich nie verkaufen konnte? Der wirkt wie ein Holzklotz an dem Tag, als er zum ersten Mal zu der Schreibgruppe stößt, die sich dienstags in der alten Schmiede trifft.
Aber die Gedichte, die er mit unbewegter Miene vorliest, beeindrucken die Gruppe sofort. So sehr, dass niemand sich aufraffen kann, sie zu kommentieren. Überhaupt fällt es der Gruppe der Freizeitautoren schwer, mit diesem seltsamen Menschen umzugehen, der Gedichte schreibt, die alle beeindrucken. Der aber so offensichtlich gar nicht einlädt dazu, mit ihm näher bekannt zu werden.
Und trotzdem kommt er wieder, liest seine Gedichte vor. Bis zu dem Tag, an dem die Gruppe erfährt, dass Quirin, wie er sich nennt, in seiner Wohnung gestürzt und ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Am Ende ist er querschnittsgelähmt und kommt ins Pflegeheim, während die Gemeindearbeiter seine Wohnung entrümpeln.
Alles in den Container schmeißen, was mal das Leben eines Mannes war, der irgendwie sein Leben lang in seiner eigenen kleinen Welt gelebt hat, ungemein wissbegierig. Tausende Bücher erzählen von seinem Drang, über all und jedes Bescheid zu wissen.
Karteikarten dokumentieren diese Wissenssehnsucht. Aber auch Tagebücher hat Quirin sein Leben lang geschrieben, und er schreibt sie auch im Pflegeheim weiter, wo ihn dann, nachdem sie sich überwunden hat, Erika besucht, die es einfach nicht aushält, dass einer aus ihrer Gruppe einfach so verschwindet und verstummt. Auch wenn sie durchaus befürchtet, dass sie zu dem schweigsamen Mann keinen Kontakt finden wird.
Die Welt im Kopf
Davon erzählt dieses Buch, gespickt mit alten und neue Tagebucheinträgen, Quirins Reflexionen über alles, was er erlebt und was ihm geschieht. Irgendwie gelingt es Erika, dennoch den Kontakt herzustellen und nach und nach das Schicksal des Mannes kennenzulernen, der selbst im Heim noch versucht, seinen ungebändigten Wissensdurst zu stillen. Und der schreibt, jeden Tag reflektiert. Die Welt, in der er zu Hause ist, trägt er im Kopf. Und immer wieder verblüfft er die Besucherin mit Dingen, die er einfach so weiß, obwohl er weder über Smartphone noch Computer verfügt.
Und nach und nach entsteht zwischen beiden so etwas wie Vertrauen, öffnet sich der so starre Mann und zeigt so etwas wie Gefühle. Lässt ein wenig hineinschauen in sein Wesen und seine Lebensgeschichte, die immer die eines Außenseiters war, der nie einen Schulabschluss erwarb und auch nie einen richtigen Beruf erlernte. Und trotzdem sammelte er ein Leben lang Wissen, war ganz offensichtlich glücklich in dieser Art Aneignung der Welt, auch wenn seine Tagebuchaufzeichnungen auch davon erzählen, wie berauscht er einst von Wanderungen im Gebirge war.
Und eine Liebe muss es auch gegeben haben, irgendwann vor vielen Jahrzehnten in Prag. Ein Gedicht für Bočinka erzählt davon. So, wie manchmal ein einzelner Name von einem Moment des aufkeimenden Glücks erzählt, das dann dennoch nicht stattfand. Oder von de Zeitereignisssen einfach überrollt wurde.
Doch dass all das, was Quirin geschrieben hat, nun einfach verschwinden soll, kann Erika nicht akzeptieren. Und sie ist auch nicht allein, als sie beginnt, Quirins Gedichte für einen Gedichtband zu sammeln, der dann mit Unterstützung vieler Helfer tatsächlich erscheint, auch wenn Quirin an der Premierenlesung nicht teilnehmen kann. Selbst die Ausfahrt im Rollstuhl bereitet ihm unendliche Schmerzen.
Doch er erlebt noch mit, wie der Gedichtband erscheint und die Region, in der er so lange unerkannt lebte, jetzt doch noch erfährt, dass sie einen Dichter beherbergte, der nie das Licht der Öffentlichkeit gesucht hat. Aber da Erika so beharrlich ist, spielt er mit, wird selbst sogar ungeduldig, als sie auch noch die Übersetzungen sammelt, die er zu Gedichten anderer Dichter angefertigt hat und sogar noch aus dem Gedächtnis aufsagen kann.
Die Unsichtbaren
Gerade weil Erika den an sein Zimmer Gefesselten immer wieder besucht, wird ihr sichtbar, dass unter der rauen Hülle ein Mensch steckt, der sein Leben praktisch im Kopf gelebt hat. Wirkliche Gefühle kann er kaum zeigen, auch wenn Erika lernt, aus seinen Worten auch Gefühle herauszulesen, die er anders nicht ausdrücken kann.
Und so wird das eine Geschichte, wie sie ziemlich selten erzählt wird, die Geschichte über einen Außenseiter, wie es sie ja zu Tausenden gibt in unserer Gesellschaft. Vielleicht sind tatsächlich viele unerkannte Dichter darunter, Träumer, Musiker, Erzähler. Nur dass die meisten nicht aufschreiben, was sie bewegt. Es also auch nicht mit Worten schaffen, aus ihrer Einsamkeit heraus zu erzählen, wie es Quirin tut.
Und so ist es auch eine Geschichte darüber, was eigentlich von einem Menschen bleibt am Ende. Oder ob alles einfach im Container entsorgt wird und das war es dann. Bald breitet sich das Vergessen aus. Denn in der Erinnerung bleibt ja nun einmal nur, was tatsächlich an Begegnung stattgefunden hat – und an Entdeckung. Es ist ja Erika, die praktisch zur Sachwalterin von Quirins Leben geworden ist und inzwischen versucht, ihre Erinnerung an diesen seltsamen Menschen zu bündeln mit seinen Tagebucheinträgen, sodass der Mann, der seine letzten Jahre unter Schmerzen im Pflegeheim verbringt, wenigstens in Konturen sichtbar wird.
Und das ist mehr, als es den meisten Menschen vergönnt ist, die am Ende einfach verschwinden und nicht einmal Erinnerungen hinterlassen. Denn für Erinnerungen braucht es Menschen wie Erika, die einfach zeigen, dass ihnen der seltsame Mensch nicht unwichtig ist. Es ist also vor allem eine Geschichte über die Aufmerksamkeit und das Überwinden des Schweigens.
Vielleicht so ähnlich tatsächlich passiert. Vielleicht auch nicht. Aber das ist egal. Es geht immer um die Gelegenheiten, die wir vielleicht einmal nicht verpassen, weil wir einem Impuls folgen und den aus der Welt Gefallenen einfach besuchen. Und zeigen, dass uns dieser Mensch nicht gleichgültig ist.
Brigitte Günther „Oasen des Lebens“ I.C.H. Verlag, Nerchau 2025, 17,40 Euro.
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