Die Straßenzüge in der Innenstadt sind noch dieselben wie vor 500 Jahren. Oberflächlich betrachtet. Aber wer nach Gebäuden sucht, die damals schon in Leipzigs Innenstadt standen, wird nur ganz wenige finden. Die City wirkt zwar historisch und kompakt wie wenige andere Innenstädte deutscher Großstädte. Aber tatsächlich wurde sie in diesen 500 Jahren mehrfach umgebaut und umgekrempelt. Und Sebastian Ringel nimmt seine Leser mit auf die Reise in die Zeit. Bildgewaltig und informativ.
Denn so eine Reise lebt von Bildern. Die Leipziger Stadtführer wissen es und schleppen in der Regel eine dicke Mappe mit historischen Ansichten mit sich herum, wenn sie den Teilnehmern des Rundgangs erklären, was sich gerade da, wo sie stehen, verändert hat. Welches einst berühmte Gebäude da stand und dann doch zum Opfer von Veränderungen wurde, die Leipzig die ganze Zeit geprägt haben.
Selbst vom Leipzig des frühen 19. Jahrhunderts, wie es im großen Stadtmodell im Alten Rathaus zu besichtigen ist, steht heute kaum noch etwas. Gerade des 19. Jahrhundert war eine Zeit, in der die (reichen) Leipziger wieder einmal daran gingen, ihre Stadt völlig umzukrempeln und umzubauen. Praktisch ihren Zwecken dienstbar zu machen, denn sie wollten Geschäfte machen – in Kaufhäusern, Banken, Einkaufspassagen und Messehäusern.
Es war nicht der erste Großumbau der Stadt, wie Sebastian Ringel zu berichten weiß in diesem Buch, das im Grunde ein großes Teamwork ist, angeregt von Verleger Thomas Liebscher, der aus seiner Arbeit weiß, dass so ein Buch schon lange gefehlt hat. Ein Buch, das auch den Horizont erweitert.
Eine Stadt häutet sich
Denn wenn man so als Mensch durch eine Stadt läuft, kann man sich die Heftigkeit der Veränderungen gar nicht vorstellen. Weshalb Ringel nicht nur in größeren Einleitungskapiteln die Häutungsgeschichte der Stadt erzählt und mit Karten sichtbar macht, sondern in reich bebilderten Einzel-Porträts bekannte Orte im Stadtbild zeigt, wo die permanente Transformation des Gebauten greifbar wird.
Angefangen etwa mit der Nordseite des Marktplatzes, die auf den ersten Blick tatsächlich noch so aussieht wie um 1850. Nur dass der Schein trügt. Ein Schwenk genügt, und die Geschichte des Alten Rathhauses kommt in den Blick, die beinah schon vor 120 Jahren geendet hätte, weil die Hälfte der damaligen Stadträte der Meinung war, zwei Rathäuser, das sei eines zu viel. Man könnte das alte einfach abreißen und dort ein großes Messehaus hinklotzen.
Eine einzige Stimme rettete das Alte Rathaus.
Natürlich gibt es später im Buch auch die Geschichte des Neuen Rathauses zu erzählen. Jedes Kapitel lädt ein zum Innehalten und einzutauchen in die permanente Veränderung der Stadt. Eine Veränderung haben ja schon die Großen Bildbände von Armin Kühne und Nils Gormsen sichtbar gemacht, in denen die ruinösen Stadtbilder der späten DDR-Zeit mit den sanierten oder neu gebauten Gebäuden der jüngeren Zeit konfrontiert wurden und Nils Gormsen dazu die Baugeschichte der abgebildeten Häuser erzählte. Man denke nur an den 2013 im Passageverlag erschienenen Bildband „Leipzig. Stadt des Wandels“.
Aber Sebastian Ringel schlägt den Bogen weiter, zeigt die Stadt als geradezu lebendigen Organismus, der sich immer wieder häutet. Der aber auch Gewalt und Zerstörung erlebte wie in den Bombennächten des Zweiten Weltkrieges, die auch große Teile der Innenstadt in Schutt und Asche legten, darunter eine Menge Gebäude, die den Bauboom des späten 19. Jahrhunderts überlebt hatten.
Lücken und Brachen erinnerten noch bis in die 1990er Jahre an diese gewaltigen Zerstörungen. Aber auch in det DDR-Zeit wurde gebaut, oft einfach sperrig mitten in die leeren Räume. Nicht jedes dieser Gebäude bestand den Test der Zeit.
Neu und groß
Aber die sich wandelnden Bauten erzählen nun einmal auch von ihrer Nutzung. Fast beschaulich wirkt da das alte Kaffeehaus „National“ an der Ecke zur Petersstraße im Jahr 1876, kurz vor dem Abriss, bevor hier diverse Geschäfts- und Messehäuser ihren Platz fanden und die Petersstraße in DDR-Zeiten regelrecht zum breiten Boulevard aufgerissen wurde.
Es kommen echte Architekturverluste ins Bild. Und natürlich auch die Häuser, die eigentlich an die berühmtesten Leipziger erinnerten – die alte Thomasschule, Wohn- und Wirkungsstätte von Johann Sebastian Bach, und Wagners Geburtshaus „Zum Roten und zum Weißen Löwen“. Beide abgerissen.
Da taten sich Leipzigs Stadtväter noch schwer, gebaute Erinnerung zu bewahren. Sie bauten lieber neu und groß, räumten auch mit der einst prägende Barockstadt auf, die Goethe noch kennengelernt hat. Der natürlich auch vorkommt im diesem Buch – einmal mit dem alte Juriducum, wo er pflichtschuldigst ein paar Vorlesungen hörte, und mit Auerbachs Keller natürlich, zu dem Ringel die ganze Geschichte von Auerbachs Hof erzählt.
Seine für jedes Kapitel gewählten Überschriften zeigen einen Liebhaber dieser Stadt, der durchaus ironisch von den Freveln der Vorfahren zu erzählen weiß. Unter „Tabula rasa“ erfährt man den durchaus gewaltsamen Umgang mit der Kleinen Fleischergasse und damit dem Ende einer der letzten noch dicht bewohnten Viertel in der Innenstadt. Unter der „Kurzlebigkeit der Leipziger Zwingburgen“ erzählt er die Geschichte des Matthäikirchhofs und unterm „Tiefen Fall des Apfels“ den Komplettverlust der alten Plauenschen Straße. Da gehe mal einer suchen, ob er sie findet.
Schornsteinwälder bis zum Horizont
Mehrere Kapitel widmen sich den Veränderungen im Universitätsviertel – vom Roten Kolleg („Esel und Studenten“) bis zum Neubau am Augustusplatz, der auch die Konturen der mutwillig zerstörten Paulinerkirche aufgreift. („Paulus, Marx und Egeraat“)
Aber Sebastian Ringel beschränkt sich nicht nur auf die immer wieder umgekrempelte Innenstadt. Er beleuchtet auch – als Auswahl – die Veränderungen in einige der einstigen Dörfer, die zu Leipziger Ortsteilen geworden sind.
Ein ganzes Kapitel widmet sich dem Wohnen, ein weiteres der Wirtschaft. Denn auch hier kann man losziehen und sucht – vergeblich – nach den einstigen Fabriken, die im 19. Jahrhundert Leipzigs Aufschwung beflügelten. Und wenn man die prachtvollen Fabrikgebäude findet, werden sie heute anders genutzt. Dass es damals vielleicht gar nicht so heimelig war, wie man sich das heute denkt, zeigen dann meist großformatige Aufnahmen, manche mit qualmenden Schornsteinwäldern bis zum Horizont.
Aber auch der Ausflug in die Vorstädte fördert einst berühmte Bauten ans Tageslicht – so wie den Wintergarten, die Markthalle, das Kaufhaus Ury oder Künstlerhaus und Märchenhaus am Nikischplatz. Alles eingebettet in die Vorgeschichte, die ja manchmal auch eine Geschichte Leipziger Lustgärten war. Jede Doppelseite ist eine Entdeckung – gerade für all jene, die Leipzig nur so kennen, wie es heute da steht.
Ahnend, dass jeder Ort eine spannende Vorgeschichte hat – ob das nun das Grassi-Museum am Johannisplatz ist („Art Déco vom Feinsten“) oder das Deutsche Buchgewerbehaus am Gutenbergplatz, Erinnerung daran, dass gleich nebenan bis zum Krieg das Deutsche Buchhändlerhaus stand. („Regierungsviertel der Schwarzen Kunst“).
Ein großer Atem
Ringel verortet das verschwundene Gewandhaus im Musikviertel, erzählt die Baugeschichte der Leipziger Bahnhöfe (die mit Bild auch aufs Cover gekommen sind), findet das alte Gut Pfaffendorf und die ebenso verschwundene Garnfabrik, bringt den einstigen Flughafen Mockau ins Bild und die einst präsentablen Hotels am Roßplatz.
Da wird so mancher Leipzig-Liebhaber nächtelang blättern und staunen. Mancher wird überrascht sein, weil er endlich die Vorgeschichte zu einem Ort findet, der ihn schon immer verwirrt hat. Mancher wird ein Leipzig entdecken, das er noch gar nicht kannte. Aber eines werden alle Leser finden: den großen Atem einer Stadt, die sich in den vergangenen 500 Jahren immer wieder verändert hat und dabei doch immer irgendwie die umtriebige Stadt geblieben ist, die Reisende aller Art aus allen Himmelsrichtungen anzog.
Und weil das auch heute noch so ist, wurden sämtliche Texte auch ins Englische übersetzt, sodass alle des Englischen Kundigen von den reich bebilderten Kapiteln immer wieder auch in den Anhang blättern können, um dort Ringels Ausflüge in die Geschichte auf Englisch zu lesen.
Sebastian Ringel „Zeitreise Leipzig“ Passageverlag, Leipzig 2025, 28 Euro.
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