Nicht nur Parteizentralen und Umfrageinstitute rätseln über die letzten Wahlergebnisse in Deutschland. Nicht nur die im Osten, wo die AfD zur Europawahl auch noch die CDU überholte. Dr. Tim Leibert vom Leibniz-Institut für Länderkunde hat jetzt mit den Methoden der Statistik versucht herauszufinden, ob die einfachen Formeln, die die großen Medien für das Auseinanderfallen des Landes benutzen, eigentlich stimmen.

Deswegen zeigt die oben abgebildete Karte auch keine Wahlergebnisse, auch wenn das verwaschene Blau im Osten irgendwie an die AfD erinnert. Sie zeigt Raumtypen, in denen ähnliche Wahlverhalten anzutreffen sind.

Das Waschblau steht dann für Raumtyp 6: „Die 67 Kreise des Typs 6 liegen ausschließlich in Ostdeutschland. Hier leben knapp 14 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Charakteristisch sind weit überdurchschnittliche Stimmenanteile der AfD, die knapp vor der CDU als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgegangen war. Anders als in Westdeutschland konnte die AfD ihr Bundestagswahlergebnis halten. Die großen Verlierer im Osten waren CDU und Linkspartei; auch die ohnehin schwache SPD rutschte noch weiter ab. Die Gewinne der Grünen fielen deutlich schwächer aus als in den alten Ländern. Dies ist ein Beleg dafür, dass die Partei in Ostdeutschland außerhalb der Groß- und Universitätsstädte weiterhin nur schwach verwurzelt ist.“

Leipzig ist in der Karte grün eingetragen. Das ist nach Leibert Typ 2: „Zu Typ 2 gehören insgesamt nur 43 Landkreise und Kreisfreie Städte, in denen allerdings 21 Prozent der Wählerinnen und Wähler leben. Dabei handelt es sich insbesondere um Großstädte, Kreisfreie Universitätsstädte und Landkreise mit bedeutenden kreisangehörigen Universitätsstädten (Landkreise Gießen, Lüneburg und Tübingen) sowie die norddeutschen Landkreise Lüchow-Dannenberg, Pinneberg, Plön und Stormarn. Charakteristisch für diesen Typ sind überdurchschnittliche Wahlergebnisse der Grünen, aber auch der Linkspartei; Union und AfD haben in diesen Kreisen dagegen ihre bundesweit schwächsten Wahlergebnisse eingefahren.“

Das heißt: Leiberts Karte zeigt zwei unterschiedliche Trends: Einerseits klassische regionale Muster und andererseits den Effekt der auseinanderdriftenden wirtschaftlichen Entwicklungen in Großstädten und ländlichen Regionen.

Zum ersten Trend betont das IfL: „Die einfache Formel ,Grüne Städte, schwarzes Land, blauer Osten‘ trifft für die Europawahl 2019 nicht uneingeschränkt zu. Vor allem im ländlichen Raum Westdeutschlands offenbaren sich bei näherem Hinsehen räumliche Unterschiede im Wahlverhalten. (…) Eine Deutschlandkarte veranschaulicht die Fakten und zeigt klare regionale Muster beim Wahlverhalten. Sie ist zugleich ein Spiegelbild der zunehmenden räumlichen Fragmentierung der deutschen Parteienlandschaft in einem Fünfparteiensystem.“

Die im Nationalatlas veröffentlichte Karte zu den Raumtypen bei der Europawahl. Karte: IfL, Nationalatlas
Karte: IfL, Nationalatlas

Zudem interpretiert das IfL das Ergebnis des Europawahl auch als einen Bruch: „Die Europawahl 2019 war eine Zäsur für das deutsche Parteiensystem. Erstmals seit 1949 rutschten Union und SPD auf Bundesebene zusammengerechnet unter die 50-Prozent-Marke; die Grünen schafften den Sprung auf Platz zwei, in Ostdeutschland löste die AfD vielerorts die CDU als stärkste Kraft ab. Angesichts des Wahlergebnisses sprach die Frankfurter Rundschau von einer ,neuen deutschen Teilung‘ in einen ,ergrünten‘ Westen und einen von der AfD dominierten Osten. Der Tagesspiegel deutete die Resultate als Anzeichen, dass sich ,das Land gefährlich auseinandergelebt‘ habe: ,Hier der Höhenflug der Liberalität, dort Hass und Abgrenzung‘.“

Um solche journalistisch zugespitzten Aussagen auf ihren Gehalt zu prüfen, ist der IfL-Wissenschaftler Dr. Tim Leibert den räumlichen Unterschieden im Wahlverhalten mittels statistischer Verfahren auf den Grund gegangen. Unter Zuhilfenahme der sogenannten Clusteranalyse konnte er aus den Ergebnissen der jüngsten Europawahl sechs Raumtypen mit ähnlichem Wählerverhalten ausfindig machen. Sie unterscheiden sich im Grad der Zuwächse oder Verluste der im Bundestag vertretenen Parteien. Als Messlatte für Abweichungen nach oben oder unten dient das Wahlergebnis jeder Partei im Bundesdurchschnitt.

Zum Ergebnis: „Ein fast einheitliches Wahlverhalten zeigt sich in den Kreisen der neuen Länder mit deutlichen Zugewinnen der AfD und überdurchschnittlichen Stimmenanteilen der Linkspartei bei gleichzeitig schwachem Ergebnis der Grünen. In Bayern liegt die CSU abseits der größeren Städte und suburbanen Räume deutlich über dem Bundesdurchschnitt. Kreise, in denen die SPD klar besser abgeschnitten hat als im Bundesdurchschnitt, verteilen sich auf das Ruhrgebiet und einen Streifen vom Saarland bis in den Harz. Überdurchschnittliche Wahlergebnisse der Grünen konzentrieren sich auf die Groß- und Universitätsstädte sowie Landkreise mit bedeutenden kreisangehörigen Universitätsstädten sowie einige norddeutsche Landkreise. Union und AfD haben in diesen Kreisen ihre bundesweit schwächsten Wahlergebnisse erzielt.“

Nicht haltbar ist nach Leiberts Auffassung die These, dass westdeutsche Landbewohner grundsätzlich eher den Unionsparteien zugeneigt sind: „In den ländlichen Regionen finden wir nach wie vor ein Nebeneinander von unterschiedlichen Raumtypen des Wahlverhaltens. Es gibt ländlich geprägte Hochburgen der SPD und Kreise, in denen Grüne oder FDP besonders gut abschneiden. Neben der Wirtschafts- und Sozialstruktur spielen regional auch heute noch konfessionelle Zugehörigkeiten und langfristige Parteibindungen eine Rolle.“

Wobei Leiberts Ansatz zwingend zu ergänzen ist, auch durch früher schon veröffentliche Karten im Nationalatlas, in denen es zum Beispiel um Geburten, Schulabschlüsse oder Patentanmeldungen geht. Auch Geografen neigen gern dazu, einzelne Phänomene auch nur separat zu betrachten, obwohl fast jede ihrer Karten zeigt, wie das soziale und politische Leben der Menschen durch ihr wirtschaftliches Dasein bestimmt wird. Gerade der Osten ist dafür typisch – als großes Testfeld politischer Scheuklappenmentalität, die auch die drastischen Folgen neoliberalen Wettbewerbsdenkens und fehlenden Verständnisses für wichtige Infrastrukturen nicht zu greifen vermag.

Augenscheinlich ist die alte Zwei-Parteien-Eindeutigkeit der alten Bundesrepublik jetzt endgültig Geschichte und in den neuen Wahlmustern zeigt sich auch der Druck, den neue Arbeitswelten auf die politische Landschaft ausüben. Ein Druck, der gerade CDU und SPD mit ihren alten Gewohnheiten ziemlich alt aussehen lässt.

Neoliberale Wettbewerbspolitik zerreißt die Staaten Europas

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