Es ist zumindest eine gewagte These, die Forscher/-innen des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) da zu belegen versucht haben. Aber eine, die sich durchaus ernsthaft mit den Folgen sozialer Abschottung in der Corona-Zeit beschäftigt. Führt soziale Isolation dazu, dass Menschen auch danach egoistischer handeln? Und ist das Spendenaufkommen ein Maß für solidarisches Handel?

Zumindest scheint man sich am IWH sicher: Die soziale Distanzierung als Maßnahme gegen die COVID-19-Pandemie hat weitreichende gesellschaftliche Folgen, die aus ökonomischer Perspektive bislang kaum diskutiert wurden. Eine Untersuchung des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) würde das so belegen.

„Die Erfahrung der sozialen Isolierung führte dazu, dass die Teilnehmenden unserer Studie eher egoistische Entscheidungen treffen“, lässt sich Studienautorin Sabrina Jeworrek, Juniorprofessorin an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Forschungsgruppenleiterin in der Abteilung Strukturwandel und Produktivität am IWH, dazu zitieren.

Ausgangspunkt: Eine Studie aus Spanien hatte bereits nachgewiesen, dass die Spendenbereitschaft während der Pandemie abgenommen hatte.

Die IWH-Studie untersuchte nun, ob die soziale Distanzierung eine Erklärung für die beobachtete Verhaltensänderung darstellen könnte. Da die IWH-Studie Ende Mai 2021 während weitreichender Lockerungen in Magdeburg und des damit einhergehenden Gefühls der Erleichterung durchgeführt wurde, scheint sich die soziale Distanzierung auch über den Lockdown hinaus auszuwirken.

Aber dann? Dann scheint doch etwas passiert zu sein, wie Jeworrek feststellt: „Die Probanden legten ein prosozialeres Verhalten an den Tag, nachdem wir sie an geltende Normen erinnert hatten.“

Was ja darauf hinweist, wie wichtig der tägliche Umgang mit anderen Menschen als soziales Korrektiv wirkt – und wie sehr Abschottung, auch digitale, diese Normen der sozialen Rücksichtnahme vergessen lässt.

Gerade junge Menschen – wie auch die Studierenden aus Magdeburg – sind zwar mit Familie und Freunden über Videotelefonie oder soziale Medien in Kontakt geblieben. Dennoch nahmen sich knapp 80 % als sozial isoliert wahr.

Für die Studie führten Sabrina Jeworrek und Joschka Waibel zwei Online-Experimente mit mehr als 500 Studierenden der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg durch. In beiden Experimenten wurden die Teilnehmenden zufällig in zwei Gruppen geteilt – eine Gruppe, die mit gezielten Fragen zu persönlichen Erfahrungen und Empfindungen während des Lockdown bewusst an die soziale Distanzierung erinnert wurde, und eine neutrale Kontrollgruppe.

Bei beiden Experimenten wurde den Teilnehmenden folgende Situation vorgestellt: Eine Person und eine Wohltätigkeitsorganisation erhalten jeweils den gleichen Geldbetrag. Die Person kann sich aus dem Budget der Wohltätigkeitsorganisation bedienen oder dieses durch eine Spende aus dem eigenen Budget erhöhen.

Im ersten Experiment mussten die Teilnehmenden die soziale Angemessenheit der verschiedenen Handlungsoptionen der zuvor beschriebenen Situation beurteilen.
„Hierbei beobachteten wir keine Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Das Wachrufen von Erinnerungen an die soziale Distanzierung hatte offensichtlich keinen Einfluss auf die zugrunde liegende Norm, die Verhalten in einer solchen Situation als sozial angemessen oder unangemessen beschreibt“, erläutert Sabrina Jeworrek.

Im zweiten Experiment schlüpften neue Teilnehmende dann tatsächlich in die Rolle der Person, die einen Geldbetrag erhält und zugleich das Budget der Wohltätigkeitsorganisation verwalten darf. Hier traten deutliche Unterschiede zwischen den Gruppen auf. Die Kontrollgruppe nahm der Wohltätigkeitsorganisation einen deutlich kleineren Geldbetrag weg als die Gruppe mit den lebendigen Erinnerungen an den Lockdown.

„Die Ergebnisse zeigen, dass die Aktivierung von Erinnerungen an soziale Isolation zu egoistischeren monetären Allokationsentscheidungen führt. Wurden die Teilnehmenden aber zusätzlich darauf aufmerksam gemacht, wie sich Teilnehmende einer anderen Studie in einer vergleichbaren Situation verhalten haben, konnte der negative Effekt der sozialen Distanzierung abgemildert werden“, interpretiert Jeworrek das Ergebnis.

Damit belege die Studie auch, dass das Hervorheben von Werten und Normen gerade jetzt wichtig sei, meint sie. Vorbildliches Verhalten ins Rampenlicht zu rücken, könne ein wichtiges Instrument sein, um die sozialen Negativfolgen des Lockdowns abzufedern.
Aber die wohl eigentlich zentrale Botschaft: Die Studie zeigt ebenfalls, dass digitale Medien offenbar kein ausreichender Ersatz für menschliche Nähe sind.

„Gerade junge Menschen wie unsere Studierenden sind zwar mit Familie und Freunden über Videotelefonie oder soziale Medien in Kontakt geblieben. Dennoch nahmen sich knapp 80 % als sozial isoliert wahr“, erläutert Sabrina Jeworrek.

Veröffentlichung: Sabrina Jeworrek, Joschka Waibel: Alone at Home: The Impact of Social Distancing on Norm-consistent Behaviour. IWH-Diskussionspapiere 8/2021

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