Die Debatte um Kopfnoten ist in Sachsen nach der Wende nie abgeflaut. Wende diesmal ohne Gänsefüßchen. Denn gerade Sachsens Politik zeigt, wie viel man vom obrigkeitsstaatlichen Denken der DDR übernommen hat. Man gängelt und maßregelt die Bürger lieber, als sie wirklich zu selbstbewusster Demokratie zu befähigen. Dass die Kopfnoten sogar gegen die Verfassung verstoßen, musste jetzt erst ein Gericht feststellen.

Selbst die Wirtschaft sieht in diesem sozialistischen Erziehungsinstrument ein völlig sinnloses Relikt.

„Kopfnoten diese Bedeutung beizumessen, ist nach unseren Erfahrungen weltfremd. Kopfnoten sind für Betriebe nicht das Wichtigste bei einer Bewerbung“, zitiert zum Beispiel der MDR den IHK-Sprecher Lars Fiehler. „Die Persönlichkeit des jungen Bewerbers ist heute viel wichtiger als Zensuren auf dem Papier. Persönlichkeit kann man am besten in einem Gespräch oder während eines Praktikums kennenlernen.“

Womit er auf etwas eingeht, was die Kopfnoten schon vor der letzten Novelle 1999 nicht leisten konnten.

Damals wurden die Kategorien „Verhalten und Mitarbeit“ durch „Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung“ ersetzt, also wieder den alten sozialistischen Bewertungskanon, der attestiert, wie angepasst und diensteifrig ein Schüler ist.

Man denkt zwar oft an Rabauken, die den Unterricht stören, oder Faulpelze, die sich wegducken im Unterricht. Aber da hat man noch immer das alte Polizeistaatsdenken im Kopf, das Schulen als Erziehungsanstalt betrachtet und Lehrer als „Erzieher sozialistischer Persönlichkeiten“.

Aber schon dabei kam alles unter die Räder, was nicht ins mustergültige Normschema passte. Ein Thema, auf das jetzt der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Bildung der SPD Leipzig, der Pädagoge Johannes Neumann, und seine Stellvertreterin, Bildungsforscherin Prof. Gerlind Große, eingehen: „Kopfnoten sind ein Relikt aus vergangenen Zeiten. Kultusminister Piwarz will an diesem altertümlichen Instrument auch nach dem Gerichtsurteil festhalten, das irritiert. Es ist seit langem bekannt, dass Noten weder die suggerierte Vergleichbarkeit noch eine irgendwie geartete Objektivität gewähren.“

Christian Piwarz hatte tatsächlich sein Unverständnis darüber geäußert, dass die Kopfnoten in Sachsen mit der Verfassung nicht vereinbart sind.

„Die sozialen Kompetenzen, die angeblich in Bezug auf Ordnung, Fleiß, Mitarbeit und Betragen bewertet werden sollen, sind in keiner psychologischen Definition durch diese Konstrukte definiert. Bei den derzeit bewerteten Kriterien kommt hinzu, dass angeborene Temperamentsmerkmale überproportional einfließen. Lebhafte, reizempfindliche oder schüchterne Kinder werden so systematisch schlechter bewertet – das ist systembedingte Diskriminierung ganz normaler menschlicher Charaktereigenschaften“, geht Große darauf ein, dass gerade die Kopfnoten vor allem den angepassten, stromlinienförmigen Schüler bevorteilen, nicht aber den Menschen als komplexe Persönlichkeit wahrnehmen. Was nicht nur schüchterne oder überforderte Schüler in so einem System scheitern lässt, sondern auch begabte und völlig unterforderte Schüler.

Im Grunde messen die Kopfnoten nur, wie fügsam ein Kind sich in das starre Lehrplanraster einpasst. Und wie bereitwillig es auf Formen der Unangepasstheit verzichtet.

So erzieht man nicht nur Untertanen, sondern auch Opportunisten.

Und wenn man die regierungsamtlichen Diskussionen dazu verfolgt hat, weiß man, dass das tatsächlich immer wieder die Motivation dahinter ist: Man misstraut dem nicht passenden Kind und legt alle Abweichungen vom Messkanon „Betragen, Fleiß, Mitarbeit und Ordnung“ als Zeichen für das Ungenügen des Kindes aus – nicht als Ungenügen der Schulform oder gar der Missachtung der jungen Persönlichkeiten.

Lehrerinnen und Lehrer können ein Lied davon singen, wie sie sich damit quälen, dieses starre Muster aus autoritären Zeiten auf völlig verschiedene Kinder anzuwenden, die mit den sehr starren Formen der Wissensvermittlung aus sehr natürlichen Gründen völlig unterschiedlich umgehen.

„Wir fordern, das Gerichtsurteil als Chance zu verstehen, und soziale Kompetenzen neu zu bewerten“, sagt Neumann. „Eine schriftliche Beurteilung der Schülerinnen und Schüler mit Blick auf ihr Empathievermögen, ihre Kooperationsfähigkeit, ihr Kommunikationsvermögen oder ihre Hilfsbereitschaft nutzt nicht nur lernpsychologisch erklärbare Kompetenzbereiche, sondern ist eine adäquate Form der Beurteilung. Mit anderen Worten: Schriftliches Feedback statt Kopfnoten!“

Aber das wäre dann schon eine recht moderne Form der Bewertung und würde für die Verteidiger des alten Erziehungsschemas bedeuten, dass sie von ihrem „Alle über denselben Leisten“ endlich Abschied nehmen.

Eine Muntermacher-LZ Nr. 61 für aufmerksame Zeitgenossen

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