LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausgabe 74, seit 20. Dezember im HandelRückblick: Das Verwaltungsgericht Dresden hatte im Oktober entschieden, dass Kopfnoten auf „für Ausbildungsplatzbewerbungen erforderlichen Zeugnissen“ nur zulässig sind, „wenn der parlamentarische Gesetzgeber eine entsprechende Regelung im Schulgesetz getroffen hat.“ Da es in Sachsen keine gibt, muss der Gesetzgeber nun eine andere Lösung finden. Den politischen Strömungen entsprechend wird er einfach das Schulgesetz entsprechend anpassen.

In der vergangenen Ausgabe hatte ich erklärt, warum Kopfnoten bei der derzeitigen Art und Weise der Vergabe keinen Sinn haben. Eine schriftliche Beurteilung würde sinnvoller, weil aussagekräftiger sein. In Teilen wird sie politisch gefordert, aber ein Festhalten an den Kopfnoten ist politisch derzeit noch aussichtsreicher.

Der Koalitionsvertrag von CDU, SPD und Grüne sieht keine entsprechende Revolution vor. Denn das wäre eine Änderung der Kopfnotenpraxis hin zur Beurteilung in jedem Fall. Erst recht in einem Schulsystem, in dem aufgrund von Überlastung der Lehrer essentielle Bestandteile pädagogischer Arbeit wie Klassenkonferenzen oder Vorbereitungswochen bereits von Schulleitern gestrichen werden können.

Sachsens Schulsystem ist ein Verwaltungsapparat, außerhalb und innerhalb des Klassenzimmers. Eine Einführung von schriftlichen Beurteilungen für jeden Einzelnen würde in der derzeitigen Situation zum Scheitern verurteilt sein. Es müsste erst eine Entschlackung der Arbeit geben. Lehrer arbeiten entgrenzt, sie haben keine Stellenbeschreibung, keinen abgegrenzten Zuständigkeitsrahmen – es sei denn, sie grenzen ihn selbst ab.

Das fördert die Überlastung und den Hang dazu, Aufgaben verwalterisch zu erledigen, so wie die Vergabe der Kopfnoten. Zur Vorbereitung der Einführung von schriftlichen Beurteilungen braucht es einen Mentalitäts- oder wie es in der Wissenschaft gern heißt: Paradigmenwechsel in den Schulen.

Die LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 74, Ausgabe Dezember 2019. Zum Lesen klicken.
Die LEIPZIGER ZEITUNG Nr. 74, Ausgabe Dezember 2019. Zum Lesen klicken.

Wie könnte eine schriftliche Beurteilung bei einer anderen Zeitausprägung aussehen? Das einfachste Modell wäre derart, dass der Klassenlehrer über jeden Schüler fünf bis sechs Zeilen zur persönlichen Entwicklung schreibt. Zu dieser gehören mit Sicherheit auch die bisherigen Kopfnotenbereiche Mitarbeit, Ordnung, Fleiß und Betragen.

Aber: Gibt es in einem Bereich nichts Berichtenswertes, muss dieser nicht Teil der Beurteilung sein, was ein Vorteil zur Notenpraxis wäre, bei der man Noten nicht einfach auslassen kann. Lehrer könnten durch individuelle Gespräche in der Pause oder nach dem Unterricht, auch im Unterricht während Stillarbeitsphasen, mit Schülern über ihr Verhalten reflektieren und diese Reflektionsbereitschaft ebenfalls einfließen lassen.

Wer diese Zeit nicht aufwenden kann, kann die Schüler in der Sozial-/Klassenleiter-/Lernen lernen-Stunde über sich selbst reflektieren und dieses Urteil in die Beurteilung einfließen lassen. Eine Variante wäre zudem, sich pro Halbjahr auf zwei der vier angeführten Bereiche zu konzentrieren.

Allerdings hat diese Variante einen großen Nachteil: Es ist nicht zwangsläufig der Fall, dass ein Klassenlehrer mit beiden Fächern in seiner Klasse ist. Je nach Fach betragen die Beobachtungsmöglichkeiten zwischen zwei und fünf Unterrichtsstunden die Woche, obwohl für Klassenlehrer die Möglichkeit bestehen sollte, zur Begleitung „seiner“ Schüler mehr Möglichkeiten zu haben. Einen weiteren Fallstrick gebe es durch die Angebote diverser Webseiten, die Textbausteine für schriftliche Beurteilungen offerieren.

Der Klassenlehrer ist also sehr wahrscheinlich auf Hilfe durch die Fachlehrer angewiesen. Ein kleines Unterstützer-System wie: „Ich bitte um Rückmeldungen zu meinen Schülern damit ich die Beurteilungen schreiben kann“ ist schnell eingerichtet. Die Folge wird aber sein, dass sich Kollegen wohl nur zu zwei Gruppen äußern werden: Den Leistungsauffälligen und den Verhaltensauffälligen. Zu dem stillen Dreier-Schüler werden die Rückmeldungen spärlich sein.

Eine andere Variante wäre, dass die Fachlehrer einer Klasse die Beurteilungsarbeit aufteilen. Bei Unterricht in über zwölf Fächern, die eine beispielsweise 8. Klasse mit 28 Schülern erhält, wären dies für die meisten Lehrer zwei Schüler, zu denen sie sich äußern müssten. So müsste sich jeder nur auf zwei fokussieren.

Der Arbeitsaufwand wäre scheinbar geringer. Allerdings unterrichtet jeder Lehrer in mehreren Klassen. Je nach Stundenzahl der Fächer in bis zu zehn oder elf. Und dann sind es pro Person auch wieder 22 Schüler und vor allem nur der Blick auf die Schüler im eigenen Fach. Wenn Paul künstlerisch nicht begabt und/oder interessiert ist, der Kunstlehrer-/in allerdings sein/e Beurteiler-/in ist, könnte die Beurteilung entsprechend gefärbt sein.

An manchen englischen Internaten wird dieses System durchgezogen. Die Fachlehrer halten den Kontakt zu den Eltern und treffen sich regelmäßig mit ihrem „tutee“, also Schützling, besprechen, was die Woche vorgefallen ist, in welchen Bereichen das Kind denkt, sich gerade weiterzuentwickeln und wo es Probleme sieht. Ein institutionalisiertes Reflektionsgespräch also.

Zudem hält der Lehrer Rücksprache mit den anderen Fachlehrern, um Informationen zum Schützling zu erhalten. Am Ende des Halbjahres verfasst der Lehrer eine Beurteilung auf Grundlage der Informationen. So etwas wie einen Entwicklungsbericht. Die Betreuung ist individuell und kann auch außerhalb des Unterrichts stattfinden. Die Zeit der „reports“ ist allerdings nicht gerade beliebt, weil arbeitsam.

Eine dritte Variante wäre eine Mischform aus Schüler- und Lehrerarbeit. Der Klassenlehrer verfasst eine schriftliche Beurteilung zu jedem Schüler, dem eine Reflektion des Schülers angehängt wird. So existieren Fremd- und Selbsteinschätzung und durch den Blick des Schülers werden Bereiche abgedeckt, die für den Lehrer verborgen bleiben.

Voraussetzung hierfür wäre, dass der Schüler regelmäßig zum Reflektieren angeleitet wird. Schüler können das erstaunlich gut. Nur die wenigsten, auch wenn viele denken es seien die meisten, überschätzen sich. Es ist eher die Unterschätzung, die Probleme macht. Die Überschätzung findet sich vor allem in den kleineren Klassen. Am Ende der Beurteilung könnten drei Dinge stehen, die Schüler und Lehrer gemeinsam verabreden.

Dieses System lässt sich außerdem, in besonders demokratischen Schulen, mit einer Beurteilung durch einen Mitschüler ergänzen. Denkbar wäre, dass zu Halbjahresbeginn jeder den Namen dessen per Los erhält, den er beurteilen soll. Die Kriterien werden schulintern festgelegt, die Schüler haben ein halbes Jahr Zeit, sich zu beäugen.

Durch das Losverfahren ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass nicht der beste Freund der Beurteiler und das Ergebnis dadurch verfälscht wird. Natürlich entstünde hier ein Mehraufwand für den Klassenlehrer, der die Beurteilungen des Schülers und der Mitschüler noch orthografisch und inhaltlich prüfen müsste.

Dies kann nur ein Einblick in die Art und Weise schriftlicher Beurteilung sein. Konkrete Kriterien und das Verfahren müssten vom Kultusministerium vorgegeben werden. Aber davon ist Sachsen weit entfernt. Die pädagogische Gretchenfrage: Schnelligkeit oder Sinnhaftigkeit bleibt allerdings.

Lehrerleben: Die zwei Probleme mit den Kopfnoten

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