Ein Softwareentwickler, ein Bildungsforscher und ein Architekt kommen nach Grünau. Was wie der Anfang eines Witzes klingt, ist ernst gemeint. Denn in Grünau-Mitte soll anderes entstehen, etwas Neues für Leipzig. Eine Schule in der die Kinder fächerübergreifend lernen, die Welt begreifen und sich mit echten Problemen auseinandersetzen. Die Lust am Lernen, Neugier und Kreativität sollen im Vordergrund stehen.

40 Initiatoren, zu denen auch noch Zukunftsforscher oder Achtsamkeitsexperten zählen, schieben seit mehreren Jahren das Projekt an. Im Sommer soll es mit der Leipziger Modellschule, der LEMO, losgehen. Birgit Kilian ist die designierte Schulleiterin und Pädagogische Leiterin der Leipziger Modellschule und Gerlind Große die Initiatorin des Projekts und Geschäftsführerin der gemeinnützigen LEMO Leipziger Modell UG, dem Träger der Leipziger Modellschule. Beide erklären im Interview die Hintergründe des Projekts.Frau Große, gemeinsam mit anderen engagierten Menschen arbeiten Sie an einem neuen Schulkonzept: der Leipziger Modellschule. Was muss man sich darunter vorstellen und wo soll sie entstehen?

Gerlind Große: Mit der Leipziger Modellschule schaffen wir einen ganzheitlichen Lern- und Bildungsraum, der bestmögliche Entwicklungschancen für alle Lernenden gleichermaßen bietet, unabhängig von sozialer und kultureller Herkunft. Ein Ort zum Mitgestalten und Wohlfühlen, wo die Lust am Lernen, der Neugier und Kreativität wachsen. Unsere Schule – kurz LEMO genannt – wird als inklusive und sozialraumorientierte Schule in Grünau-Mitte beheimatet sein.

Was ist eine sozialraumorientierte Schule?

Gerlind Große: Als sozialraumorientierte Schule richtet die LEMO ihr Konzept speziell an den Bedarfen der Bewohner des Stadtteils – also dem Sozialraum – aus. Zum Beispiel bieten wir Arabisch als Fremdsprache an und ermöglichen es den Kindern regelmäßig auf dem Gut Loberthal auch Landleben und Naturerfahrungen zu erleben.

Außerdem öffnet sich die Schule in den Stadtteil. Die Kinder werden viel an außerschulischen Orten und draußen lernen. Denn lernen kann man überall etwas: Im Schwimmbad, im Theatrium, am Kulki … Und wir öffnen die Schule für den Stadtteil, ein großer Teil der Freiflächen auf dem Campus wird für die Öffentlichkeit zugänglich sein, Räume der Schule können als Vereins- und Versammlungsräume genutzt werden.

In einem Video auf der Homepage heißt es: „Die Kinder begreifen die Welt in der Welt“, „sie setzen sich mit echten Probleme aus der Welt auseinander“ und sie „erhalten konstruktives Feedback“. Das sind hohe Anforderungen an den Lehrer. In Deutschland sind Lehrer aber auf ihre Fächer orientiert. Wer wird an der LEMO unterrichten?

Birgit Kilian: Wir werden mit Lehrkräften und Pädagog/-innen aus sehr unterschiedlichen Schulformen starten. Bei uns werden Lehrer/-innen mit dem 2. Staatsexamen ebenso tätig werden wie auch Erzieher/-innen mit staatlicher Anerkennung. Daneben werden pädagogische Zusatzkräfte mit besonderen Qualifikationen wie Theaterpädagogik, Graffiti, Arabisch oder Lehmbau an der LEMO arbeiten.

Mit diesem multiprofessionellen Team wird es uns gelingen, sowohl den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen als auch den Erfordernissen aus den staatlichen Lehrplänen gerecht zu werden. Alle Mitarbeiter/-innen haben ein großes Interesse daran, fächerübergreifend, praktisch und projektorientiert zu arbeiten.

Werden Lehrer auf demselben Lohnniveau wie staatliche Angestellte vor der Verbeamtung bezahlt werden können?

Das Titelblatt der LZ Nr. 87, Ausgabe Januar 2021. Screen LZ
Das Titelblatt der LZ Nr. 87, Ausgabe Januar 2021. Screen LZ

Gerlind Große: Wir möchten die besten Lehrkräfte und wir wollen auch, dass unsere Mitarbeiter/-innen gut versorgt sind. Da Schulen in freier Trägerschaft von öffentlicher Seite immer unterfinanziert sind – 90 Prozent der pädagogischen Kosten, null Prozent für laufende Infrastrukturkosten – werden wir, so wie die meisten freien Schulen, zunächst 80 Prozent des entsprechenden Tariflohns zahlen.

Ein großer Vorteil für die Pädagogen bei uns ist aber das sehr viel freiere und selbstbestimmte Arbeiten, die Möglichkeit, selbst das Konzept und die Inhalte mitzugestalten, die flexiblere Zeiteinteilung über den Tag und das Arbeiten in einem motivierten Team.

Lehrer sollen Zeit für Rückmeldungen an die Kinder haben. Wie groß wird der Betreuungsschlüssel sein?

Birgit Kilian: Bei uns lernen die Kinder in bewährten altersgemischten Gruppen. Wir nennen sie Stammgruppen: Klasse 1 bis 3 und Klasse 4 bis 6 starten nächstes Schuljahr. Je 24 Kinder werden in einer Stammgruppe lernen. Über den Tag werden immer mindestens zwei Pädagog/-innen für die 24 Kinder Verantwortung übernehmen. Das entspricht einem Betreuungsschlüssel von 1:12.

Wird es institutionalisierte Form der Rückmeldung an die Schüler geben?

Birgit Kilian: An der LEMO wird es keine Noten geben. Studien haben gezeigt, das Noten weder objektiv sind, noch motivieren sie die Schüler/-innen zu besseren Leistungen. Unsere Didaktik lebt von Beziehung, Beobachtung, Analyse und Reflexion. Als Instrument nutzen wir das digitale Kompetenzbeobachtungs- und dokumentationstool „Scobees“. Dafür entwickeln wir extra eine Funktion zur Beobachtung von freien Lernprozessen für den Schulalltag mit dem gleichnamigen Startup.

In dem Video auf der Homepage werden außerdem folgende Schlagwörter genannt: „Gute Bildung für alle“, „kritisches Denken“, „Erfahrung von Selbstwirksamkeit“, „gelebte Chancengleichheit“. Modeworte einer ganzen Lehrerstudenten-Generation … Davon haben schon so viele geredet. Wie wollen Sie es schaffen, dass dies an der LEMO umgesetzt wird?

Gerlind Große: Ja, wir fragen uns auch, warum das eigentlich so selten wirklich umgesetzt wird. Alle reden davon. Bei uns ist das Konzept nicht nur ein Papier für die Schublade. Einerseits werden sich alle Angehörigen der Schule stetig an der Weiterentwicklung von Konzept und Qualität beteiligen können. Andererseits werden wir bereits vor dem Schulstart mit Qualifikation und Teambildung anfangen und dann stetig weiterführen.

Selbstbestimmtes Lernen läuft nämlich nicht einfach von alleine, sondern bedarf besonders guter pädagogischer Begleitung. Ganz wesentlich für die Umsetzung ist auch, dass das ganze Team – Pädagog/-innen, Lehrkräfte, Sozialarbeiter/-innen – in jeder ganz normalen Schulwoche gemeinsame Zeiten der Vor- und Nachbereitung, der Supervision und Teamzeiten für die inhaltliche Weiterentwicklung haben werden. Das heißt, die ganze Organisation lernt stetig weiter.

Wer sind die Engagierten? Wie kam es dazu?

Birgit Kilian: Geboren wurde die Idee aus der Erkenntnis, dass wir zu den Herausforderungen des aktuellen Bildungssystems in Deutschland am besten durch ein gutes Modell beitragen können. Es gibt schon viele gute Schulen und Ansätze, aber es gelingt selten, dass Konzepte die gesamte Breite notwendiger Veränderungen aufgreifen und wenn, strahlen sie zu wenig nach außen.

Die Engagierten sind ein mittlerweile großer Kreis aus gut 40 Menschen, die sehr unterschiedliche Kompetenzen und Erfahrungshintergründe mitbringen. Alle eint, dass sie Schule anders und kindgerechter machen wollen und bereit sind, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Bei uns finden sich Bildungsforscher/-innen, Lehrer/-innen, Finanzfachleute, Erzieher/-innen, ein Architekt, Student/-innen, Softwareentwickler/-innen, Kommunikations- und Achtsamkeitsexpert/-innen, ebenso wie ein Zukunftsforscher. Zu unseren Unterstützern gehören pädagogische Größen wie Otto Herz oder Margret Rasfeld. Und jeder, der Lust hat, sich zu beteiligen, ist herzlich eingeladen! (Kontakt: info@leipzigermodellschule.de)

„Gemeinsam mit den Grünauern, den Alteingesessenen und den Neuhergezogenen“, heißt es auf der Homepage. Wie sieht die konkrete Beteiligung aus?

Gerlind Große: Auf der Wiese unseres künftigen Campus haben wir bereits einen kunterbunten Container aufgebaut und gestaltet. Dieser wird Info- und Anlaufpunkt für uns als LEMOs aber auch für die Grünauer/-innen werden. Hier werden ein Café und ein Bürgergarten entstehen. Darin wird unser „LernKulturLab Grünau“ wachsen, in dem generationenübergreifend kulturelle Angebote von den und für die Bürger/-innen stattfinden.

Es sollen die Stärken der Schüler gesehen werden. Was ist mit den Schwächen?

Birgit Kilian: Es ist eigentlich ganz einfach: Wenn die Stärken stärker werden, werden die Schwächen schwächer. Kinder und Jugendliche wollen wachsen und ihre ganz eigene Persönlichkeit entwickeln. Das gelingt über Stärkung und gute Beziehungen.

Wenn ein junger Mensch sich seiner selbst bewusst ist, dann kann er auch zu seinen Schwächen stehen und wird ein eigenes Interesse daran haben, an diesen zu arbeiten. Allerdings gehen wir auch davon aus, dass niemand es in allen Fächern und Disziplinen zur Meisterschaft bringen muss.

Es soll vorrangig um Themen gehen, die die Schüler selbst wählen. Ist das eine Absage an die Allgemeinbildung und ein Ja zur Beliebigkeit?

Birgit Kilian: Diese Frage beantworten wir klar mit einem Weder-Noch. Die Themen der Schüler sind echte Themen, sind ganzheitliche Themen, sind Themen von Bedeutung. Erstens findet Lernen immer da am besten statt, wo man sich selbst für ein Thema interessiert. Zweitens ist der derzeitige Wissenskanon, der den Kindern in der Schule vermittelt wird, veraltet und im digitalen Zeitalter widersinnig.

Und drittens: An den Themen der Schüler/-innen lassen sich die Inhalte der Lehrpläne ebenso bearbeiten. Es ist die Aufgabe der Lehrkräfte, hier genau hinzuschauen, Lerngelegenheiten zu erkennen und die notwendige Unterstützung oder Anregung zu geben.

Die Modellschule will einen Campus bauen. Wie soll das finanziert werden und welche Gebäude sollen sich dann wo befinden?

Gerlind Große: Infrastruktur für Bildung und Soziales wird aus vielen Quellen gefördert. Es gibt Bundes-, Landes- und EU-Fördermittel, die wir dafür abrufen können. Damit lassen sich circa 50 Prozent der Baukosten decken. Dennoch bleibt ein zweistelliger Millionenbetrag, der von der Initiative aufgebracht werden muss. Das ist nur mit vielen Unterstützern zu schaffen.

Zum Glück ist das Thema „zukunftsfähige Bildung“ heutzutage so vielen Menschen wichtig, dass wir bisher auf große Resonanz gestoßen sind. Wir sammeln Bürgschaften und haben extra für die Baufinanzierung eine Genossenschaft gegründet, an der sich jeder – auch wenn er sonst nichts mit unserer Schule zu tun hat – beteiligen kann, um so Innovation in der Bildung zu unterstützen.

In einer Machbarkeitsstudie haben wir einen Vorschlag für die Platzierung der einzelnen Lernhäuser, der Kita, der Mensa und Aula sowie der Sportanlagen erstellt, wie auf dem Bild zu sehen. Dieser wird gemeinsam mit dem Stadtplanungsamt weiterentwickelt und schließlich in einen neuen Bebauungsplan münden.

Wie viele Schüler sollen einmal an der LEMO lernen?

Birgit Kilian: Wir werden im Sommer 2021 mit 48 Schüler/-innen starten und nach 10 Jahren werden schließlich knapp 1.000 Kinder und Jugendliche an der Leipziger Modellschule lernen und leben.

Und wie sind sie auf die Idee gekommen? Haben Sie oder Ihre Kinder vorwiegend schlechte Bildung genossen?

Gerlind Große: Jedes Bildungssystem ist ein Konstrukt von Zeit und Gesellschaftssystem. Das jetzige war schon zu unseren Schulzeiten veraltet und hat sich seitdem nicht wesentlich verändert. Es ist jedoch klar: Die großen Herausforderungen unserer Zeit – das Leben in der sogenannten VUCA-Welt (schnelllebig, unvorhersehbar, komplex und mehrdeutig) braucht eine andere Art von Bildung, braucht andere Kompetenzen.

Die Klimakrise, das Meistern der digitalen Welt und der Zusammenhalt der Gesellschaft erfordern vor allem personale, emotionale und überfachliche Kompetenzen. Ja, wie kommt man eigentlich auf so eine Idee? Wenn man die Augen aufmacht?

„Eine andere Bildung in einer anderen Zeit: Die Leipziger Modellschule“ erschien erstmals am 29. Januar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 87 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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