Tobias Wellmann ist Oberstufenberater am Freien Gymnasium Borsdorf. Er ist dafür zuständig, den Schülern der 11. und 12. Klasse ihren Weg zum Abitur organisatorisch zu ebnen. Die unzähligen Verwaltungsaufgaben, die dies mitbringt, haben sich seit Corona enorm erhöht. Zahlreiche neue Regelungen erschweren Wellmann die Arbeit. Im Interview mit der Leipziger Zeitung erläutert der 37-Jährige, warum die Informationsweitergabe des Ministeriums zurzeit eine Farce ist, worin die Unterschiedlichkeit des diesjährigen Abiturs bestehen wird und warum er sein Wochenende zurzeit mehr als sonst nach dem Ministerium planen muss.

Herr Wellmann, Sie sind Oberstufenberater an einem Gymnasium. Was machen Sie den ganzen Tag?Meine Kernaufgaben umfassen die Verwaltung und Organisation der Oberstufe sowie der Abiturprüfungen. Da Letztere nunmehr nahen, läuft nicht nur die intensive Vorbereitung darauf bereits seit einigen Wochen auf Hochtouren, sondern es beginnt mit dem 2. Halbjahr die anstrengendste Zeit für mich.

Darüber hinaus sind Oberstufenberater in Sachsen Teil des Führungsmanagements an Schulen und somit ferner beteiligt am Planen, Durchführen und Evaluieren von weiteren Leitungsaufgaben. Kurzum: Man ist ebenso Mitglied und Entscheidungsträger in einer Schulleitung.

In zwei Monaten beginnen die AbiturprĂĽfungen 2021. Wie ist Ihre GemĂĽtslage in Ihrer Funktion als Oberstufenberater, wenn Sie daran denken?

Sie ist gemischt. Einerseits habe ich einen Großteil der regulären Vorbereitungen bereits abgeschlossen, einige andere Planungen sind entsprechend der Erfahrung zumindest schon kalkulierbar – je nachdem, wann das Landesamt für Schule und Bildung (LaSuB) beispielsweise die Chiffren für die Schulen herausgibt, was leider seit einigen Jahren recht spät erfolgt. Mit alledem geht es mir soweit erst einmal gut.

Andererseits gibt es gerade aufgrund der aktuellen Situation noch immer Dinge, die nicht gänzlich vorhersehbar sind. Das Ministerium hat uns zwar bereits einiges an die Hand gegeben, aber keiner weiß, ob diese Sonderregelungen im Rahmen der Corona-Pandemie so bleiben oder wir auch weiterhin kurzfristige Änderungen erfahren werden. Man muss die „Unplanbarkeiten einplanen“ und dafür noch Kapazitäten schaffen und Zeit einplanen. Hier beginnt bereits der emotionale Stress.

Was bereitet Ihnen Sorgen im Hinblick auf die PrĂĽfungen?

Sorgen bereitet mir zuweilen, dass als Summe vieler Änderungen und geplanter Sonderregelungen die gesamte Abiturphase zu vermehrtem Stress auf allen Seiten führen wird. Ich rechne durchaus mit dem Ausfall von Kolleg/-innen, welche jetzt schon belastet sind. Insgesamt bin ich auch besorgt, dass uns unvorhersehbare Entwicklungen der Corona-Pandemie zusätzliche Arbeit auferlegen werden und die jetzt schon angespannte Prüfungsphase noch kräftezehrender wird.

Darüber hinaus gibt es viele Unsicherheiten und Ängste aufseiten der Schüler/-innen, beispielsweise im Hinblick auf eine inhaltlich adäquate Prüfungsvorbereitung. Es bedarf generell eines permanenten Austauschs sowie einer sensiblen und pädagogisch klugen Kommunikation.

Wir müssen alle am Ball bleiben – keiner darf ausfallen!

Könnten Sie einen Einblick in die Unterschiedlichkeit des diesjährigen und ggf. letzten Jahrgangs zu „normalen“ Jahrgängen hinsichtlich Unterricht und anstehenden Prüfungen für die geben, die nicht in der Materie stecken?

Wie im letzten Jahr gibt es auch in diesem Jahr für jedes schriftliche Prüfungsfach einen frei wählbaren Erst- oder Zweittermin. Neu ist eine außerplanmäßige Unterrichtszeit nach den Prüfungen. Damit verdichtet sich nicht nur die gesamte Phase von April bis Schuljahresende, sondern auch die Prüfungsphase gestaltet sich insgesamt länger. Die Abiturient/-innen machen Schritt B vor A, indem sie nach erfolgreich abgeschlossenen Prüfungen noch einmal die Schulbank drücken müssen.

Nur der Zeitraum für möglich zusätzliche mündliche Prüfungen muss danach folgen, weil die Gesamtqualifikation erst dann durch den sogenannten Prüfungsausschuss festgestellt werden kann, wenn Qualifikations- (11/I – 12/II) und Abiturprüfungsphase abgeschlossen sind.

Stellen Sie sich vor, Sie haben nach 12 Jahren Schule den Gipfel des Berges fast erreicht, man sagt Ihnen aber jetzt, dass Sie nochmal einen weiteren Pfad bestreiten müssen, um den langersehnten Pokal – das Abiturzeugnis – empfangen zu können. Das könnte für alle Beteiligten eine enorme psychische Belastung darstellen – und hier rechne ich sogar mit Krankschreibungen seitens der Abiturient/-innen.

Aber was macht man dann mit denen, die ihr Abitur abgelegt haben, aber bei denen noch ein Kurshalbjahresergebnis fehlt? Es bleibt spannend …

Für die schriftlichen Prüfungen gibt es wiederholend eine sogenannte Hauskorrektur. Das heißt, die Zweitkorrekturen gehen nicht außer, sondern bleiben „anonymisiert“ im Haus. Ziel dieser Sonderregelung kann nur darin bestehen, hausinternen „Corona-Besonderheiten“ Rechnung zu tragen und den Prüflingen keinen weiteren Nachteil zu geben.

In diesem Zusammenhang wurde der Zeitraum für die mündlichen Prüfungen gekürzt. Die Krux daran ist, dass von den noch verbleibenden 13 planbaren Tagen für die mündlichen Prüfungen 8 mit den bereits erwähnten schriftlichen Zweitterminen besetzt sind, was die Planbarkeit nicht nur einschränkt, sondern allgemein zu einem deutlich erhöhten zeitlichen Planungsaufwand führt.

Im Moment gibt es zudem aktuell noch eine Gesetzesregelung, welche besagt, dass die zu Prüfenden nach jeder schriftlichen Prüfung einen freien Tag bis zu einer mündlichen zu erhalten haben. Hier hätte das Ministerium vorausschauender planen und bereits informieren können, denn diese Frage gab es auch schon letztes Jahr.

Interessanterweise hat das LaSuB (das Landesamt fĂĽr Schule und Bildung/Anm. d. Red.) in Chemnitz im Moment bereits kommuniziert, dass diese Regelung fĂĽr den Zeitraum der mĂĽndlichen PrĂĽfungen – samt der darin liegenden Zweittermine – ausgesetzt ist. In Leipzig verweist man aber nach wie vor auf noch ausstehende und hier fehlende Informationen seitens des Ministeriums zu diesem Sachverhalt. Also kann der Plan fĂĽr die mĂĽndlichen PrĂĽfungen an meiner Schule von mir nach wie vor nicht adäquat gebaut werden. In Chemnitz vielleicht schon!

Des Weiteren verändern sich die Belegungs- und Einbringungsregelungen in der 12/II und es müssen nicht mehr alle Fächer besucht und dort Leistungen erbracht werden. Zwingend abgeschlossen werden Kurse, die komplett eingebracht werden müssen. Ansonsten können noch bis zu zwei weitere Fächer gewählt, besucht und damit abgeschlossen werden.

Bei Letzterem kann vor allem die Frage nach der Vergleichbarkeit zu „normalen“ Jahrgängen gestellt werden. Die jetzigen 12er haben durch Corona den bisher entscheidendsten Nachteil seit März 2020 erfahren, den das Sächsische Kultusministerium nach besten Möglichkeiten versucht auszugleichen.

Kein leichter Spagat, wenn man bedenkt, dass unsere Gesellschaft und vor allem unser antiquiertes Schulsystem in Deutschland leistungs- und abschlussorientiert ist. Es entsteht ein Dilemma zwischen erzwungener Schulpräsenz, um im Rahmen adäquater Leistungen juristisch belastbare Noten zu generieren, und dem Gesundheitsschutz aller Beteiligten. Keiner möchte schließlich mit einem Corona-Abitur „gestempelt“ sein.

Das Ministerium hält sich immer wieder lange Zeit bedeckt, was die künftigen Regelungen für die Jahrgänge 11 und 12 anbetrifft. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Das Ministerium ist an sich stetig darum bemüht, alle Entscheidungen zügig an uns weiterzugeben, was ihm mal mehr, mal weniger gut gelingt. Im Hinblick auf schnelle Änderungen erreichen uns nach wie vor die meisten Dokumente sehr spät. Wenn man häufig erst Freitagnachmittag oder am Wochenende Informationen erhält, welche manchmal bereits Montag in Kraft treten müssen, plant man sein Wochenende also nach dem Ministerium, um diese Hinweise und Vorschriften im Rahmen schulinterner Verwaltung noch rechtzeitig aufzubereiten.

Mir ist klar, dass Entscheidungen auf Bundesebene – meist wurden und werden diese dienstags oder mittwochs getroffen – erst noch die Landesebene „kreuzen“ müssen, um dann an die Schulen zu gelangen.

Tief spürbar wird hier aber auch die in der Politik oft beschriebene Salamitaktik. Es wird zu oft wöchentlich gedacht. Jetzt kann man anführen: Ja, die Inzidenzen. Aber auch hier ist bekannt, dass man dennoch Langzeitentwürfe gestalten und umsetzen kann – auch an und in den Schulen, auch für das Abitur. Wir haben längst Konzepte; viele davon selbst ausgedacht.

Ich vermute stark, dass an den Tischen der Entscheidungsträger zu wenige oder gar keine Pädagogen sitzen. Ich mag mich irren, aber viele Regelungen, welche kurzfristig kommen, sind entweder nicht zu Ende gedacht, bedürfen mitunter vieler Nachfragen und eigener Interpretationen oder sind einfach ungenau und eher theoretisch als schulpraktisch. Nach vielen Rückfragen wird dann zuweilen nachjustiert.

Bleiben wir bei dem Beispiel Einbringung. Allein die Entscheidungen über Sonderregelungen dazu werfen Fragen auf: Was passiert mit dem sogenannten Fremdsprachenniveau, wenn Schüler/-innen eine Sprache nicht mehr vollends besuchen bzw. lernen, da sie diesen Kurs abwählen konnten? Wie sichere ich rechtlich ab, dass Abiturient/-innen mir auch adäquat mitgeteilt haben, welche Wahlfächer sie noch besuchen wollen? Man sammelt also all diese Fragen – manche gibt man zurück, andere entscheidet man dann im Rahmen der Möglichkeiten einfach selbst – dafür haben Oberstufenberater juristische Fortbildungen erhalten.

Ich muss nun jede/n Schüler/-in einzeln zu den möglichen zwei Wahlfächern beraten, um nicht nur adäquat zu informieren, sondern auch solche Dinge wie Studienwünsche oder NCs nicht zu vergessen. Auch unterpunkten darf niemand. Diese Gespräche kosten mich circa sieben Zeitstunden in einer Woche und übersteigen damit, zusammen mit anderen Tätigkeiten, exemplarisch meine wöchentliche Anzahl der mir für die OSB-Tätigkeit gegebenen Funktions- bzw. Abminderungsstunden.

Nebenbei erstelle ich Listen, Power Point Präsentationen und Belehrungsbögen. Und die dabei entdeckten Ungenauigkeiten oder unvollständigen Vorgaben des Ministeriums denke ich dann zu Ende. Und wenn ich dann mit dem Erstellen und Denken fertig bin, kommt die erste Nachjustierung, so wie kürzlich: Die 12er „können daneben“ (= neben den zwei geplanten Wahlfächern) noch weitere Fächer besuchen. Diese Formulierung ist nicht nur sehr missverständlich, sondern muss von uns Oberstufenberatern wieder interpretiert werden. Und das kostet wieder Zeit – und vor allem Nerven!

Die Kommunikation zwischen Ministerium, den einzelnen Schulämtern und den jeweiligen Schulen ist aktuell nicht nur schwierig, sondern höchst unterschiedlich. Auch dass sich die Informationsweitergabe regional nicht nur unterschiedlich und unvollständig, sondern zum Teil auch widersprüchlich gestaltet, ist eine absolute Farce, die sowohl mein persönliches Zeit- und Ressourcenmanagement enorm strapaziert und auch zu Unsicherheiten seitens der Abiturient/-innen führt!

Wenn Sie die aktuellen Vorschriften erstellen dĂĽrften, welche wĂĽrden Sie einfĂĽhren oder abschaffen?

Ich würde weder welche grundlegend abschaffen noch einführen. Aber ich würde versuchen, komplexere Inhalte besser zu strukturieren und einzelnes daraus besser zu konkretisieren. Beispielsweise erreichte uns am 11.02.21 ein Schreiben zur weiteren Gestaltung des Präsenzunterrichts in der Jahrgangsstufe 11.

Da das Letzte hier bereits viele Fragen aufwarf, haben wir diese für uns schon damals durch ein „Hineindenken“ in das SMK beantwortet und lagen damit auch soweit richtig. Wir haben heute eine Doppelstunde in der Schulleitung gesessen und alle „Neuigkeiten“ durchgeackert, um am Ende festzustellen, dass wir dieses Schreiben nicht gebraucht hätten.

Müsste ich dennoch etwas abschaffen, dann höchstens Vorschriften, welche mehr oder minder nur auf dem Papier gelten. Für die jetzige Jahrgangsstufe 12 wurden für die Abiturprüfungen im letzten Jahr Themenbereiche aus dem Lehrplan gestrichen – uns Oberstufenberatern wurde aber mitgeteilt, dass diese Themen beispielsweise als Teilaufgaben dennoch „drankommen“ können.

Als Fachlehrer erfahren sie also nicht wirklich eine Reduzierung des Stoffs und unterrichten ihn. Auf dem Papier wird diese KĂĽrzung aber explizit betont. An welcher Stelle stimmt da die Kommunikation nicht?

Wie erfolgt die Kommunikation zwischen Schulen und Ministerium derzeit? Es hat den Eindruck, dass die Medien immer einen Informationsvorsprung haben.

Die Medien sind meist schneller und ich erhalte Fragen meiner SchülerInnen zu Themen, welche offiziell noch nicht kommuniziert wurden. Dieser Kommunikation-Fauxpas ist aber ein größeres Problem an anderer Stelle. Wenn Sie wissen, dass die Kultusminister wieder tagen, gehen Sie bereits in Habachtstellung und planen viel Zeit und vor allem das Wochenende ein. Das belastet psychisch.

Wenn Sie auf das sächsische Abitur blicken: Sind die üblichen Erlasse und Verordnungen ein Garant für ein sachsenweit vergleichbares Abitur?

Sachsenweit gelten erst einmal die gleichen Vorschriften. Viele Wahl- bzw. Abwahlmöglichkeiten sowie nicht immer wieder vermeidbare Sonderwege werden hier aber möglicherweise Vergleichbarkeiten erschweren und Unterschiede aufzeigen. Alle Kurse, die nicht mehr besucht wurden, erscheinen auf dem Zeugnis und sind für jeden, der es begutachten muss, sicht- und interpretierbar. Die hier gesetzte Priorisierung wird immer ersichtlich sein und den Leser dieses Bescheids möglicherweise zu Fragen wie „Warum hat der nichts mehr weiter besucht?“ führen.

Ich kann aktuell aber nicht sagen, welche Auswirkungen das Ganze auch auf die weitere Entwicklung des Abiturs in Sachsen haben wird. Wenn ich einen Blick auf Bundesebene werfen darf: Das sächsische Abitur ist qualitativ noch immer hervorragend, wird dieses Jahr aber ein anderes sein, welches versucht, Corona-Nachteile bestmöglich auszugleichen. Welche neuen dabei geschaffen werden, bleibt offen.

„Ein Oberstufenberater erzählt aus der Praxis: Man plant sein Wochenende nach dem Ministerium“ erschien erstmals am 26. Februar 2021 in der aktuellen Printausgabe der LEIPZIGER ZEITUNG. Unsere Nummer 88 der LZ finden Sie neben Großmärkten und Presseshops unter anderem bei diesen Szenehändlern.

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