Alle Jahre wieder gibt es die Bildungsempfehlungen in Sachsens Schulen. Sie erzählen von einem desolaten Bildungssystem, in dem tausende Kinder behindert und aussortiert werden und das ein Ziel auf keinen Fall verfolgt: Alle Kinder zum höchstmöglichen Bildungserfolg zu führen. Ein bürokratischer Akt, der Kinder sogar noch dafür bestraft, wenn sie im falschen Dorf des Freistaats wohnen. Eine kleine Abrechnung von Petra Zais.

Fangen wir mit dem blanken Zahlensalat an, den die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag, Petra Zais, abgefragt hat.

Für das Schuljahr 2019/2020 erhielten 48,5 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Sachsen eine Bildungsempfehlung fürs Gymnasium und 51,5 Prozent eine Bildungsempfehlung für die Oberschule. Während die Mehrzahl der Schülerinnen (51,8 Prozent) die Empfehlung erhielt, die Schullaufbahn an einem Gymnasium fortzusetzen, galt dies bei den Schülern für 45,1 Prozent. Das geht aus der Antwort von Kultusminister Christian Piwarz (CDU) auf die Kleine Anfrage der Landtagsabgeordneten Petra Zais (GRÜNE) hervor.

Regionale Unterschiede = regionale Chancenungleichheit

Regional gibt es erneut enorme Unterschiede: So erhielten am Standort Bautzen des Landesamtes für Schule und Sport (LaSuB) (umfasst die Landkreise Bautzen und Görlitz) 43 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium. Am LaSuB-Standort Dresden (umfasst die Stadt Dresden sowie die Landkreise Sächsische Schweiz/Osterzgebirge und Meißen) waren es hingegen mit 53,9 Prozent fast zehn Prozentpunkte mehr.

Getrennt nach Geschlecht sind die Unterschiede nochmals größer: So erhielten am LaSuB-Standort Bautzen 45,7 Prozent der Schülerinnen eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium – am LaSuB-Standort Dresden waren es 57,4 Prozent. Ähnlich bei den Jungs: Während am LaSuB-Standort Chemnitz (umfasst die Stadt Chemnitz sowie den Landkreis Mittelsachsen und den Erzgebirgskreis) 40 Prozent der Schüler eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium erhielten, waren es am LaSuB-Standort Dresden 50,6 Prozent.

Nach Landkreisen und Kreisfreien Städten nimmt die Spannweite nochmals zu. Während im Landkreis Görlitz 40,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium erhielten, waren es in der Landeshauptstadt Dresden 58,9 Prozent. Außer in Dresden wurde sonst nur im Landkreis Leipzig (51,7 Prozent) und in der Stadt Leipzig (51,5 Prozent) mehr als der Hälfte der Viertklässlerinnen und Viertklässler eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium erteilt. In allen anderen Landkreisen und in Chemnitz überwiegen die Empfehlungen für die Oberschule.

Ist ein Gymnasium in der Nähe oder nicht?

Tatsächlich wurden 43,9 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler (12.895) für das Schuljahr 2019/2020 an einem Gymnasium und 56,1 Prozent (16.448) an einer Oberschule angemeldet (Stand 14.03.2019). 1.113 der 12.895 Schülerinnen und Schüler, die an einem Gymnasium angemeldet wurden, hatten eine Bildungsempfehlung für die Oberschule (8,6 Prozent). Besonders häufig wurden in der Stadt Leipzig Kinder trotz Empfehlung für die Oberschule an einem Gymnasium angemeldet (10,9 Prozent).

Auch bei den Anmeldungen gibt es enorme regionale Unterschiede. Während am LaSuB-Standort Dresden fast die Hälfte (49,8 Prozent) der Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium angemeldet wurden, waren es am LaSuB-Standort Chemnitz 37,2 Prozent. Nach Landkreisen aufgeschlüsselt, vergrößert sich die Spannweite. Im Erzgebirgskreis wurden 68,3 Prozent der Schülerinnen und Schüler an einer Oberschule angemeldet, während dies nur auf 40 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler in der Landeshauptstadt Dresden zutraf. Dass eine Mehrheit der Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium angemeldet wurde, war nur in Dresden (60 Prozent) und Leipzig (52,4 Prozent) der Fall. Überall sonst wurden mehr Schülerinnen und Schüler an einer Oberschule angemeldet.

Vorteil Großstadt

Auffällig ist schließlich, dass in den Kreisfreien Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz – und nur dort – prozentual mehr Kinder am Gymnasium angemeldet wurden, als der Anteil ‚Bildungsempfehlung Gymnasium‘ hätte vermuten lassen: In Chemnitz entfielen 44,2 Prozent der Anmeldungen auf die Gymnasien, prozentual erhielten 42,9 Prozent der Schülerinnen und Schüler in Klasse 4 eine entsprechende Bildungsempfehlung. In Dresden wurden 60 Prozent der Anmeldungen am Gymnasium getätigt, die Quote der Bildungsempfehlung für diese Schulart lag bei 58,9 Prozent. In Leipzig wurden 52,4 Prozent der Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium angemeldet; 51,5 Prozent der Viertklässlerinnen und Viertklässler war dies zuvor empfohlen worden. In allen Landkreisen hingegen wurden prozentual weniger Kinder am Gymnasium angemeldet als gemäß Bildungsempfehlung dieser Weg empfohlen worden war.

„Die Unterschiede bei der Vergabe der Bildungsempfehlung und beim Anmeldeverhalten sind je nach Wohnort und Geschlecht nach wie vor deutlich und alles andere als selbsterklärend“, meint Petra Zais, bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag. „Wie kommt es zu solchen Spannweiten? Warum erhalten in Dresden so viel mehr Schülerinnen und Schüler eine Bildungsempfehlung für das Gymnasium als im Landkreis Görlitz? Und warum ist die Bindungswirkung der Bildungsempfehlung in der Stadt Leipzig offenbar geringer als im Landkreis Leipzig?“

Wer die Anfrage zu den einzelnen Schulen liest, merkt freilich auch: Die Spannbreiten innerhalb der Landkreise und Großstädte sind sogar nicht viel größer. Kinder in sozialen Brennpunkten haben fünf Mal geringere Chancen, eine Empfehlung fürs Gymnasium zu bekommen, als Kinder aus gutbürgerlichen Wohnquartieren.

Petra Zais empfiehlt Gemeinschaftsschulen

„Die Motive für die Elternentscheidung bei der Schulwahl sind vielfältig. Für mich liegt jedoch auf der Hand, dass das Schulangebot vor Ort maßgeblichen Einfluss hat. Ich plädiere dafür, das Schulangebot dort zu erweitern und Gemeinschaftsschulen dort zu ermöglichen, wo es vor Ort gewollt ist“, sagt Petra Zais.

„In vielerlei Hinsicht ticken die Kreisfreien Städte anders als die Landkreise. Insbesondere in Dresden und Leipzig gibt es einen klaren Trend zum Gymnasium – verstärkt durch die Lockerung der Bildungsempfehlung. Chemnitz folgt mit etwas Abstand. In den Landkreisen hingegen dominiert die Oberschule, sowohl bei den Bildungsempfehlungen als auch bei den Anmeldungen. Man könnte auch fragen: Was macht die Oberschule im ländlichen Raum so attraktiv? Und was das städtische Gymnasium?“

Oder mal so gefragt: Ist überhaupt eins der Modelle attraktiv? Treffen Eltern und Kinder nicht notgedrungen die Wahl, die aus ihrer Sicht die weniger nachteilige ist?

„Die Zahlen, etwa bei den Anmeldungen, könnten auch genutzt werden, um Schulen zu identifizieren, die vor besonderen Herausforderungen stehen. Die Datenlage dazu ist auf Landesebene insgesamt äußerst dünn. Bis auf den (freiwillig erhobenen) Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund gibt es kaum Kriterien, die eine bedarfsgerechte Ressourcensteuerung ermöglichen würden. Das Ergebnis: eine Förderung mit der Gießkanne, die alle Unterschiede negiert. Damit ist niemandem geholfen“, stellt die Landtagsabgeordnete fest.

„Erst im Januar erschien der Sächsische Bildungsbericht 2018. Darin werden die regionalen Unterschiede in der Entwicklung des Bildungswesens thematisiert. Der Bericht konstatiert ein zunehmendes Stadt-Land-Gefälle bei Bildungsangeboten, -beteiligung und -ergebnissen. Die Ergebnisse meiner Anfrage bestätigen diese Beobachtung. Mit Blick auf die Bildungsgerechtigkeit halte ich ein solches Gefälle für bedenklich. Die Zahlen sind eine Einladung, zu Erklärungsansätzen und Konsequenzen ins Gespräch zu kommen. Sie einzig für ein Ranking der beliebtesten Schulen zu nutzen, ist aus meiner Sicht zu kurz gegriffen.“

In der Antwort von Minister Christian Piwarz (Drs 6/16985) sind alle sächsischen Grundschulen (Verhältnis Bildungsempfehlung Gymnasium-Oberschule nach Geschlecht, Meldung der Grundschulen mit Stand vom 14.03.2019) sowie die Anmeldezahlen für die 5. Klassen der weiterführenden Schulen (Meldung des LaSuB mit Stand vom 20.03.2019) aufgelistet.

Kreiselternräte werben für den Volksantrag Gemeinschaftsschule für Sachsen

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