LeserclubWollen wir jetzt mal raten, was Herr L. in diesem Moment zuerst getan hat, als ihn der schnaufende Berg von Mensch in der Bahnhofshalle beinah niedergewalzt hätte? Natürlich nicht. Für so etwas hat ein Mann mit heißen Sohlen keine Zeit. Keine Zeit gehabt, auch nicht für Schmerz, denn in der nächsten Szene sehen wir L. schon über das Bügelbrett gebeugt und im Dampf verschwunden. Er bügelt - wer hätte das gedacht - dubiose Papiere. Was für eine Aufgabe.

Wer lästern will, der lästere: Hier ist der Briefkasten für vielgeliebte Leserbriefe. Da kommen täglich drei dutzend dicke Briefe in unserer Redaktion an, in denen uns lauter kluge Menschen beweisen, dass wir ihnen geistig nicht das Wasser reichen können.

Aber das ist Herrn L. egal. Manchmal beantwortet er solche Briefe. Manchmal nicht. Manchmal legt er ein gepresstes Stiefmütterchen oder ein Hirtentäschel hinein in den Antwortumschlag, ganz kommentarlos.

Er weiß, dass er es den klugen Menschen da draußen nie recht machen kann. Er weiß auch, wie der schnaufende Berg von Mensch heißt. Mit Titel und Adresse. Wenn er in sein Notizbuch schaut, hat er auch seine Telefonnummer. Auch die Direktdurchwahl, die er manchmal benutzt, wenn er einen O-Ton braucht. Meist in etwas verzwickten Fällen, in denen sonst anständig gekleidete stadtbekannte Unternehmer in vertrackten Konstellationen vor Gericht stehen. Das Zitat lautet dann in der Regel: „Dazu werden Sie von mir, Herr L., ganz bestimmt keinen Kommentar bekommen. Aber das wissen Sie ja schon von allein.“

Das schreibt er dann so hin. Die Leute haben auch ein Recht darauf zu erfahren, wer keine Kommentare gibt.

Wohin der Berg von Mensch, den L. für sich gern das Mammut nennt, heute eilt, weiß er zwar nicht. Aber so eilig hat es der juristisch bewanderte Herr mit der Wucht eines Orkans eigentlich nur, wenn eins seiner Schäfchen in D. oder F. oder B. einen unverhofften Termin bekommen hat. Meist geht es dann um Kautionen. Oder ein psychiatrisches Gutachten, das schnell noch erstellt werden musste.

Die Eile ist ihr Geld wert. Das Mammut ist nicht nur leiblich ein Schwergewicht unter den Juristen der Stadt L.

Da könnte Herr L. natürlich das Bürofräulein Meier anrufen und fragen. Manchmal lässt sie dann doch durchblicken, warum das Mammut wieder so in Eile war. Dann bekommt L. auch manchmal Dinge gesagt, die er zwar wissen darf, aber nicht weitererzählen. Seinem Friseur zum Beispiel.

Dem schnaufenden Advokaten ist er also nicht gefolgt. Seine blutende Nase hat er auch nicht sonderlich gut behandelt. Das ist sie gewohnt. Ein Taschentuch muss reichen.

Und das Foto, das der Blasse von ihm geschossen hat? Dieser fürwitzige Kollege?

Egal. Auch das hat seine Zeit. Keine Zeit aber hatte das windelnasse Päckchen in seiner Tasche. Und Sie können darauf wetten, dass er drei Mal heftig geflucht hat unterwegs, vielleicht auch vier Mal. Oder fünf. Erst beim Warten auf eine Straßenbahn, die natürlich nicht kam. Was ja in der großen Stadt L. nicht daran liegt, dass keine Bahnen fahren, sondern dass die Anzeigetafeln immer gern auch mal Straßenbahnen anzeigen, die es noch gar nicht gibt. Virtuelle Straßenbahnen sozusagen. Die zwar gekauft und bezahlt sind, aber nicht gebaut. Deswegen stehen sie zwar offiziell an den Aushängen, kommen aber nicht. Zumindest nicht heute und nicht morgen.

Also nahm er dann doch die nächste Bahn, die kam. Und landete während der Fahrt zwischen einem sturzbetrunkenem Fußballanhänger, der noch den Sieg vom letzten Wochenende feierte und einem verschüchterten Nazi (der ihn zwar herausfordernd anglotzte, aber heute war er allein unterwegs, da senkte er dann doch schüchtern die Lider, als L. zurückglotzte. Die meisten Nazis sind schüchtern. Wenn man sie mal allein trifft. Deswegen wollte L. schon fragen, ob sein Kumpel heute vielleicht krank war oder Kopfschmerzen hätte? – Fragte er lieber nicht. Denn gestern hatte er den Kumpel ja erst vor Gericht gesehen. Der Richter hat ihn ein bisschen verurteilt. Deswegen war der hier nun ganz allein unterwegs. Der Arme. Und zumindest einer von den beiden hatte sich seit Ostern nicht mehr geduscht. Es roch sehr männlich in der Bahn. Wenn man das denn mochte.

Nachher kam noch ein bisschen Fliederduft hinzu, weil die Bankbeamten Mittagpause hatten und zur gemeinsamen Sause in die Stadt fuhren. Und der Geruch der beiden weißen Pudel zwei Sitze weiter war auch nicht ohne.

Und dann war er endlich da. Zumindest an seiner Haltestelle. Und wäre das Päckchen doch noch losgeworden, weil der Fußballfeierer doch nicht ganz so betrunken war, dass er das Päckchen nicht für eine Flasche hätte halten können: „Hassnda?Gibmaher.“

Hätte L. nicht beherzt zugegriffen, er hätte das Päckchen nicht mehr gehabt. So machte es nur ratsch und spritzte ein bisschen. So bekam der Bursche eben auch noch ein bisschen Kaffe ab, auch wenn’s nun wirklich kein so besonders guter gewesen war.

Draußen presste L. das Paket lieber fest an die Brust, denn seit Kurzem gilt ja in dieser Stadt die Devise: Icke zuerst. Man pufft sich wieder und zeigt Durchsetzungskraft beim Bahnzustieg. Die Stadt verändert sich. Man glaubt es kaum. Natürlich immer nur zum Besseren, nicht wahr Herr Zirkusdirektor?

Hat Herr L. vielleicht sarkastische Gedanken, wenn er sich so durchprügelt?

Zumindest hat er nun noch zwei, drei blaue Flecken mehr. Und einen klebrigen Lutscher, den er aber erst zu Hause fand, als er den Schlüssel aus der Tasche holte. Da hing der Lutscher dran. Und L. wusste jetzt, warum das dicke Kind so geschrieen hatte.

Egal.

Jetzt wollte er bügeln.

Zumindest wusste er, wie das geht. Das Bügelbrett stand schon immer da, als freundliche Erinnerung einer weltgewandten jungen Dame, die ihn gern darauf aufmerksam machte, dass er mit gebügelten Hemden ein schmuckes Mannsbild wäre. So eins, dem man auch mal die Lieblingsbratkartoffeln zubereitete.

Jetzt war nur das Bügelbrett da. Das Bügeleisen. Ein aufgeweichter Umschlag und ein Stapel labbriger Blätter. Das Bügeleisen war ein neuliches, kam deshalb nicht ganz so schnell auf Touren. Doch als es glühte, knisterte es umso schöner beim Hinhuschen übers Papier. Da musste L. gar nicht erst die Lesebrille aufsetzen. Das sah er auch so, dass ihn Herr X. nicht auf den Arm genommen hatte.

Außer mit einem: Die Kopie sah eigentlich gar nicht wie eine Kopie aus, eher wie ein Original, das eigentlich ordentlich abgeheftet in einem ordentlichen Amtsordner stecken sollte.

Nur dass dieser Amtsordner im Rathaus von L. nicht mehr aufzutreiben war. Das hatte L. schon geprüft. Soweit man das prüfen kann in einer Behörde, die einem amtlich mitteilt, dass diese Aktensache sowieso aus bislang nicht nachvollziehbaren Gründen nicht aufzufinden sei.

Und wären ihm die Blätter jetzt nicht angekokelt, wäre uns Herr L. jetzt natürlich völlig entfleucht in kombinatorische Fernen. Aber der angesengte Papiergeruch holte ihn in die Wirklichkeit zurück, so schnell, dass er sich noch am Bügeleisen verbrannte, während er versuchte, den Stecker zu ziehen und zum Spülbecken zu hechten, um die Blätter zu löschen.

Aber da klingelte es natürlich. Und hämmerte auch gleich an die Tür.

„Aufmachen! Sofort Aufmachen!“

Sie haben den Anfang verpasst?

Hier ist Teil 1, in dem Herr L. eine heiße Geschichte vergießt und aufbricht zu einem noch viel heißeren Termin
Warum Herr L. immer wieder aus seiner Arbeit gerissen und eine Geschichte wieder nicht geschrieben wird

In Teil 2 geht es um ein Knappdaneben, über das sich Herr L. gewaltig ärgern dürfte.
Entgleitet Herrn L. auch diese Geschichte wie ein Fisch?

Und in Teil 3 wurde die höchst misstrauische Staatsmacht aufmerksam auf sein Treiben.
Die nicht ganz unwichtige Rolle von Zerstreutheit und Koffein im Leben des Herrn L.

Und in Teil 4 gab’s auf einmal Ärger für zwei misstrauische Beamte
Eine ziemlich frustrierende Begegnung auf Bahnsteig 7 – aber für wen eigentlich?

In Teil 5 hat es ordentlich gescheppert und Herr L. bekam es mit einem misstrauischen Kollegen zu tun.
Gibst Du wohl her!

In Teil 6 ließ sich Herr L. mit einem Kaffee schon gar nicht erpressen.
Mit einem Kaffee lässt sich Herr L. nicht erpressen, aber das macht das Leben nicht leichter

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar