LeserclubEs gibt nicht nur vier verschiedene Versionen dessen, was in dieser Nacht tatsächlich passiert sein könnte. Vier Versionen, die so gar nicht zusammenzupassen schienen. Was Herr L., als er dann endlich irgendwann wieder ein wenig klarer denken konnte und die Kopfschmerzen nachließen, erst recht beunruhigte. Denn wie sehr sehnte er sich doch in seiner Arbeit nach klaren, sauberen Linien.

Aber die gab es eindeutig nicht. Nur lauter Szenen, die aufeinander folgten – aber in Maschas Erzählung in einer völlig anderen Reihenfolge als in der von Oleg. Wobei er Oleg noch zugestehen musste, dass der noch der Nüchternste von ihnen war in dieser Nacht, denn er fuhr ja das dröhnende Mobil, das in früheren Zeiten vielleicht einmal ein gut gepflegter Wolga war, Dienstfahrzeug für irgendeinen fetten Funktionär, der sich in der dunkel lackierten Karosse zu den Brennpunkten des Kampfes gegen Imperialismus und andere schreckliche Ungeheuer chauffieren ließ. Einer von den Typen, die mit einem Grabstein in Form einer roten Fahne auf dem Vorzeigefriedhof der Stadt beerdigt waren in jener Chaussee der Revolutionäre, über die sich ein heillos zerstrittener Stadtrat bis heute nicht einigen konnte: Abreißen? Umbetten? Oder doch lieber in großen Schautafeln den verirrten Neugierigen erklärten, wie sich die Nomenklatura eines vergangenen Zeitalters protzig beerdigen ließ?

Übrig geblieben war ein Gefährt, durch dessen Ritzen der Wind pfiff, das aber so oft repariert und wieder auf Vordermann gebracht worden war, dass man nicht so recht wusste, ob die Typenbezeichnung am Heck noch stimmte oder dort besser der verzweigte Stammbaum dutzender Automarken aus aller Welt hätte aufgemalt sein müssen. Neben dem dicken Aufkleber in blau, rot, weiß: „Pobeda!“

„Dass sie dich dafür noch nicht angehalten haben“, versuchte Herr L. irgendwann bei einer dieser Schleifen durch die zunehmend menschenleeren Straßen ein wenig Smalltalk mit seinem Freund, der die Fahrt sichtlich genoss. Das Auto dröhnte zwar. Aber es war das zufriedene Dröhnen einer alten, welterfahrenen russischen Passagiermaschine, die schon so viele Abstürze hinter sich hatte, dass einer mehr oder weniger den Kohl nicht fett machte. Runter kam man immer. Und wie man robuste Technik wieder zusammenklebte, das wusste man im Nahen und Fernen Osten noch allemal.

„Steht doch großes Cha am Schild. Cha wie Chistorische Kulturwagen, gaaaanz wertvoll. Darf immer fahren in alte Kulturland. Kann Milizija gar nichts machen, kannstu glauben. Lass ich extra Qualmwolke stinken, muss er chusten und guckt dann wie dumm auf Tachometer, siehstu?“

Der Tachometerzeiger klemmte irgendwo zwischen 30 und 40 fest, genauso wie der Füllstandsanzeiger des Tanks.

„Und wie kriegst du mit, wann dein Tank leer ist?“

„Ist doch ganz einfach. Motor säuft ab, macht noch drei Mal Chacha, muss ich rechts ranfahren.“

„Und dann?“

„Dann chol ich Kanister aus Kofferraum und kipp wieder voll, wo ist da Problem? Soll ich dir sagen was, mein Lieber? Seit ihr alle vereinigt seid, ihr komischen Deutschen, seid ihr so wehleidig wie junge Spatz – nix geht mehr. Wenn was kaputt geht, müsst ihr zu teurer Reparatur. Nix macht ihr mehr alleine. Ihr seid richtig gekommen vor die Chunde, meinst du nicht?“

War das vor dem kurzen Schlenker zur Tankstelle, wo sie sich mit einer neuen Ladung Sekt eindeckten, Oleg zwei Kanister abfüllte und die Diva eine riesige Packung eingeschweißter Würste mitnahm?

„Die willst du doch nicht essen.“

„Seh ich so aus? Das ist Hundefutter.“

Die Hunde lernten sie in dieser Nacht auch alle noch ziemlich persönlich kennen. Darunter einige wirklich scharfe Wachhunde, laute Kläffer, bösartige Biester, die mit aller Macht versuchten, durch die Zäune zu gelangen, die ihr Wachrevier von der Straße trennten. Meist waren diese Zäune auch noch hell erleuchtet von Lampen, wie sie die Stadtbeleuchtung für gewöhnlich nicht verwendete, sehr grell, sehr gleißend. Mal war auch ein Stück Nato-Draht gespannt, oft genug waren Mauern mit Glasscherben gespickt. Und kleine, graue Kameras hingen über den Toren.

Beim ersten Mal fürchtete L. noch, die Diva wolle tatsächlich in das abgesperrte Villengelände und die Hunde mit den Würsten regelrecht bestechen. Aber so sektgelaunt, wie sie war – so viel Übermut trieb sie dann doch nicht.

„Ich zeig’s euch nur, rief sie in die kläffende Nacht. „Ihr sollt es einfach nur gesehen haben.“

Die Würste sorgten dafür, dass die Hunde irgendwann aufhörten, so durchdringend zu bellen. Manche wedelten dann auch mit den Schwänzen, andere standen nur misstrauisch hinter dem Zaun und beobachteten, was diese vier Fremdlinge da draußen anstellten. Und sie knurrten, wenn auch nur einer etwas näher kam.

Zwei Mal kam ein aufgeregter Wachmann angerannt und drohte, die Polizei zu rufen, wenn sie nicht schnurstracks verschwänden.

Einer blendete sie mit einer Lampe, die fast so hell strahlte wie die Funzeln über dem Zaun.

„Wenn du das Ding nicht runter nimmst, Igor, dann kriegstu Ärger mit mir, chast du verstanden?“

Igor nahm die Lampe runter, redete aber trotzdem weiter in das Gerät an seinem Jackenkragen. „Du kannst mir nicht drohen, Oleg!“

„Ich droh dir nicht, du Käsehoch. Ich besuch morgen deine Mama und die wird dir was erzählen.“

„Mein Boss wird aber wissen wollen, was ihr chier wollt.“

„Machen Sightseeing-Tour, kannst du ihm sagen. Vielleicht will er seine prächtige Villa ja verkaufen, verstehstu?“

„Ich glaub nicht, dass er verkauft. Und nu ..“

„Sag’s lieber nicht, Kleiner. Magst du ein Würstchen?“

Im brummenden Wolga fragte L. dann doch lieber, wen sie hier eigentlich besucht hatten.

„Findest du alle in deiner Liste“, sagte die Diva nur. „Unter H wie Hamster.“

„Ich weiß genau, dass kein Hamster dabei war.“

„Dann nimm Haifisch oder Hund. Die Hunde hast du ja nun kennengelernt.“

„Denen möchte ich aber nicht ohne Zaun begegnen.“

„Bist eben ein Schisser.“

So sind Frauen, wenn sie in Sektlaune sind. Gläser hatten sie keine dabei, und so wanderte die Flasche reihum. Nur Oleg blieb standhaft. Vielleicht, weil er wusste, was noch kam.

Denn an der letzten Station wurden sie nicht von kläffenden Hunden begrüßt, sondern von zwei Männern in schwarzen Anzügen, die schon aufs Auto zuhielten, ehe Oleg noch die Bremse gezogen hatte. Einer blieb rechts stehen, die Jacke leicht geöffnet, damit man das Schulterholster ahnen konnte. Der andere ging auf Olegs Seite rüber und wartete geduldig, bis Oleg die Scheibe heruntergeleiert hatte.

„Wenn Sie nicht sofort weiterfahren, haben Sie ein kleines Problem, Herr Oleg. Muss ich Ihnen den Sachstand noch genauer erläutern?“

„Mir nicht, Kollege“, brummte Oleg. „Aber vielleicht meinen Mitreisenden?“

„Ihre Mitreisenden werden morgen von uns zu hören bekommen. Guten Abend.“

„Aaaaaber halt, Genosse, was soll das“, rief  L., der nun auf einmal putzmunter war. „Von wem werden wir was zu hören bekommen …“

„Sie werden schon sehn. Fahren Sie los, Herr Oleg.“

Und Oleg fuhr los. So, wie man losfährt, wenn man von zwei schwarzen Männern so beiläufig auf den Unwillen einer stilleren Macht hingewiesen wurde. Er gab seinem Wolga die Sporen und der bekam tatsächlich hin, was sonst nur ein ordentlicher Maserati kann: Er beschleunigte aus dem Stand und ließ dabei die Reifen und den Auspuff qualmen. Und dann schossen sie in die Nacht, vier verdatterte Insassen und ein wütendes Automobil. Hinter sich gleißende Lampen, die das Wachhäuschen am eindrucksvollen Torweg in Licht fluteten.

Das Gleißen sahen sie auch noch von der Landstraße aus, über die sie zurückfuhren zur Stadt.

„Hat der uns eben tatsächlich mit einer Knarre bedroht?“

„Die sind so angewiesen. Euer Freund da drin ist eben ein hohes Tier. Fühl mich grad wieder wie in alte Chaimat. Ist ieberall wirklich dasselbe.“

„Mit den Schießprügeln?“

„Nain, mit den ehrenwerten Cherren. Unsre lieben Apparatschniki. Wollen wir Party beenden, Fräulein Margarita?“

„Ich heiße nicht Margarita.“

„Kann ich mir denken. Hab aber Durst vom vielen Rumgefahre.“

Was dann eben bedeutete, dass sie die Nacht mit dem restlichen Sektvorrat irgendwo beendeten. Nur dass sich Herr L. partout nicht daran erinnern konnte, wo das war. Nur in Fetzen erinnerte er sich an ein Aufwachen unter Zentnerlast, mit einem Schädel so schwer wie der Mond und dem kleinen braven Pflichterfüller im linken Ohr, der ihn zum Zähneputzen und Haarekämmen schickte. Und dann erwachte er an seinem Schreibtisch im Büro.

„Alkohol ist nicht gut für Ihren Kopf, Herr L.“

„Aber wer sind Sie?“

„Wenn ich’s recht betrachte, könnte ich Ihr Schutzengel sein. Sind Sie jetzt wach oder soll ich Ihnen erst mal einen Polizeikaffee kochen?“

Die komplette Serie zum Nachlesen.

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