LeserclubDie Kopfschmerzen kündigten sich schon an, als Herr L. sich durchs halbe Polizeipräsidium telefonierte. Vielleicht hätte ein heißer Grog geholfen, ordentlich angereichert mit irgendeinem hochprozentigen Kräutersud. Aber es war so ein Montag, wie Herr L. sie nur zu gut kannte. Noch am Sonntag denkt man: Was ist eigentlich los in diesem Nest, was man den Leuten unbedingt am Dienstag brühheiß erzählen müsste? Und dann hört das Telefon nicht auf zu klingeln, weil alle möglichen Leute ihren Kummer in der Redaktion abladen wollen.

Zwar meldete sich in diesem Fall zuerst eine jener unerschütterlichen Sekretärinnenstimmen, die Herr L. in früheren Zeiten noch gemocht hatte, als er noch jung und grün hinter den Ohren war und meinte, hinter einer souverän klingenden Stimme müsste auch eine kompetente Person stecken, die nur zu bereit war, auch dem anrufenden Herrn L. zu helfen, seine drängenden Fragen beantwortet zu bekommen. Aber mittlerweile wusste er, dass solche Stimmen geübt wurden und die souveränen Damen mit ihrer einvernehmlichen Freundlichkeit vor allem eines bewirken sollten: den Anrufer abzuwimmeln, und zwar so, dass er das Gefühl hatte, gerade knapp an einem Rendezvous im schönsten Café der Stadt vorbeigeschrammt zu sein.

In diesem Fall einem Café in der Landeshauptstadt, irgendwo im Regierungsviertel. Nur dass Herr L. wusste, dass ihn Frau Selbstbewusst nicht anrief, weil sie ihn unbedingt zum Tortenessen in die Hauptstadt einladen wollte. Denn sie saß im Vorzimmer eines nur zu gut bekannten Landtagsabgeordneten, der wohl vor wenigen Minuten in seinem Büro aufgetaucht war und wohl schon im Auto eine Liste mit all den Telefonaten aufgesetzt hatte, die er am besten gleich erledigte, bevor in den Zeitungen die falschen Schlagzeilen standen.

Und das musste der Abgeordnete Fuchs schon gewusst haben, noch bevor er seine kleine, umschnörkelte Villa in L. verließ, unbeobachtet, vielleicht sogar erst, als er den quietschnassen Abgang des stadtbekannten Reporters beobachtet hatte. Oder jemand hatte es für ihn getan, was auch egal war.

Jedenfalls teilte Fräulein Selbstbewusst nur mit leichter Unterkühlung in der Stimme mit, sie verbinde den Herrn Redakteur jetzt mit dem Herrn Abgeordneten, ob das genehm sei? Aber da sie nicht wartete, bis Herr L. sagte, ob es ihm genehm sei, steckte der gleich einen Wimpernschlag später wieder in der üblichen Wartemusik, ein kleines Klaviereinspiel eines in diesen Breiten nur zu bekannten Liedes auf die Schönheit der Wälder und die Pracht der Flüsse und Städte, Schlösser und Straßen, und kaum hatte er sich in die Melodie eingehört, die sonst eher von Kapellen mit Akkordeon zelebriert wurde, verriet ihm ein Rumpeln in der Leitung, dass wieder ein Gesprächspartner dran war.

Und es war tatsächlich Herr Fuchs persönlich, der ihn gleich mit einem für diese späte Morgenstunde nicht recht passenden Überschwang erklärte, dass es doch recht ungewöhnlich sei, dass „aus Ihrem Hause noch niemand bei mir angerufen“ hätte, was ihn doch sehr wunderte.

Ich wähnte sie noch mit spritzenden Reifen auf einer verregneten Autobahn, hätte L. gern eingeworfen. Aber so recht zum Zug kam er nicht, denn kaum hatte er eingehakt, unterbrach ihn der Überschwängliche mit den Worten „Entschuldigung angenommen. Ich bin kein nachtragender Mensch, auch wenn Sie das vielleicht nicht glauben, Herr L.“

Da hätte er auch gern eingehakt. Aber er ahnte schon: Dieser feuchtfröhliche Bursche dachte gar nicht daran, sich ausfragen zu lassen zu dem, was in der zurückliegenden Nacht in seinem Haus geschehen war. Er wollte selbst bestimmen, was darüber berichtet wurde. Und so bekam Herr L. eine Variante der Geschichte zu hören, die so elegant an der Wirklichkeit vorbeizuschrammen schien, dass man schon mal ins Grübeln kommen durfte, ob es vielleicht doch zwei verschiedene Welten waren, in denen sie lebten, der berühmte Abgeordnete und der eher schüchterne Reporter, nur da und dort mit leichten, eher irritierenden Überschneidungen, die eher noch dazu beitrugen, das Gefühl zu verstärken, dass die ferne Galaxis, in der die Auserwählten lebten, für Erdgeborene wie Herrn L. schlicht nicht erfassbar war.

Aus den beiden pudelnassen Burschen, die Herr L. noch am Morgen selbst gesehen hatte, sichtlich geknickt unterm Zugriff bärbeißiger Polizeibeamter, wurden in der Schilderung des Abgeordneten zwei abgebrühte Mitglieder einer dubiosen Russengang. Und nicht nur irgendeiner. Es musste die Krasnojarsker sein.

Als L. einwarf, warum er nicht Moskauer schwere Jungs vermutete oder gar welche aus Minsk, klärte ihn der erfahrene Abgeordnete darüber auf, dass er sich darüber „schon seit langem intensiv mit unserem Herrn Polizeipräsidenten“ austausche. „Da können Sie sicher sein, dass wir dieses Problem, das unsere geliebte Stadt nun schon seit Jahren in seinem Griff hält, sehr wohl auf dem Schirm haben. Nur konnte ich mich – leider – mit meiner Position auch im Rathaus unserer Stadt nicht durchsetzen, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte. Aber ich denke, nach diesem Ereignis wird auch der Herr Bürgermeister einlenken. Das geht einfach nicht so weiter. Die erpressen Schutzgeld, rauben unsere Händler aus, treiben Menschenhandel, ver….“

„Menschenhandel?“

„Was denn sonst: Lesen Sie denn keine Zeitung? Prostitution, Rauschgift, Schwarzarbeit, Nötigung, Raubüberfälle …“

„Äh …“

„Oh, ich weiß, dass Sie in Ihrem Blatt darüber lieber nicht so berichten. Da scheinen Ihre Kollegen dann doch ein bisschen fleißiger zu sein und die Stimmung in der Bevölkerung wahrzunehmen …“

„Wen …“

„Lassen Sie es gut sein. Ich verstehe Sie ja. Sie wollen niemanden aufregen, keine schlafenden Hunde wecken, die Stimmung nicht anheizen. Und ich verrate Ihnen was: Mir geht es genauso. Mir wäre es auch lieber, das gäbe es alles nicht … Aber die letzte Nacht hat mir die Augen geöffnet. Wir dürfen nicht mehr wegsehen.“

Und so erfuhr Herr L., dass die beiden von der Polizei Verhafteten augenscheinlich ganz schwere Jungs waren. „Mit einer richtig langen Latte von Straftaten, das sage ich Ihnen.“

„Haben Sie denn die Namen …“

„Aber Herr L., was glauben Sie denn? Ich bin nur ein kleiner Abgeordneter. Mir werden doch die Polizeibeamten nicht sagen, wen sie da aufgefischt haben.“

„Aber …“

„Aber das mit der Russengang wird Ihnen auch unser Herr Polizeipräsident bestätigen. Rufen Sie ihn an. Ich habe mit ihm schon ein langes, sehr langes Telefongespräch geführt heute Morgen.“

Deshalb hatte man Herrn L. also abgewimmelt. Aber dass der Polizeichef mit einem Abgeordneten ausgerechnet die kriminelle Szene von L. durchdeklinierte am Telefon? Das fand er zumindest ein wenig ungewöhnlich.

„Ich werde auch mit unserem Minister über die Sache reden, das werde ich nicht mehr auf sich beruhen lassen. Wir haben eine Verantwortung vor unseren Wählern. Und wenn wir ein paar Gesetze schärfen müssen, um diese leidige Bandenkriminalität endlich in den Griff zu bekommen, dann werden wir das tun. Das verspreche ich Ihnen.“

Da war augenscheinlich ein Stück einer alten Wahlkampfrede dazwischengekommen. Herr L. konnte sich nicht erinnern, jemals in Verführung geraten zu sein, bei einer Wahl diesem Tausendsassa seine Stimme zu geben. Eher betrachtete er Wahlen als eine seltene Gelegenheit, den Habenichtsen unter den Parteien sein einsames Stimmchen zu geben in der Hoffnung, es würde den Leuten am Katzentisch vielleicht zu einem warmen Plätzchen im Landtag oder in irgendeinem Vorzimmer reichen.

Aber vor Leuten, die umstandslos „Wir“ sagten, wenn sie sich und ihre karriereverliebten Freunde meinten, hatte er einen Heidenrespekt. So viel Respekt, dass er nur vorsichtig wagte, den Tatendurstigen in seinen Versprechen zu unterbrechen und anzudeuten, dass ja dann Furchtbares geschehen sein musste im Hause des Herrn Abgeordneten …

„Sie sagen es. Ich hätte ja von mir aus nicht darüber gesprochen, aber ich wünsche es niemandem, dass er so eine Nacht erlebt mit zwei finsteren, gewaltbereiten Schlägertypen …“

„Schlägertypen?“

„Wenn Sie das miterlebt hätte, würden Sie genauso reden. Und Sie wissen ja, dass auch meine Frau das mit aushalten musste. Und unsere Hausangestellte, verflixt, wie hieß sie doch gleich? Zwei Menschen, deren einzige Rettung es war, dass ich mich bemüht habe wie ein Wasserfall. Ich habe auf die Kerle eingeredet, ihnen vor Augen geführt, dass sie mit Gewalt bestenfalls erreichen, dass sie noch länger hinter Schloss und Riegel wandern. Da hätte ich schon für gesorgt. Aber sie hatten sich ja an mich gewandt …“

Oha, da merkte Herr L. ein wenig auf. Waren sie also doch nicht mit der Brechstange durchs Fenster eingestiegen?

„Brechstange, aber Herr L.! Wo leben Sie denn? Sie schauen zu viele Krimis. Die haben geklingelt, haben gewartet, bis unsere Hausangestellte … verflixt, der Name …“

„Und dann?“

„Dann haben sie das zierliche Frauchen einfach beiseite geschoben, haben sich ins Wohnzimmer gestellt und uns bedroht.“

„Womit?“

„Das werde ich Ihnen nicht sagen. Verstehen Sie mich, das habe ich auch unserem Herrn Polizeipräsidenten versprechen müssen: Keine Einzelheiten. Ich denke mal, die Sache rollt jetzt an. Die ganze Szene werden wir aufheben. Wo kommen wir da hin, wenn solche Typen einfach in wildfremde Wohnungen marschieren und Forderungen stellen? Wir sind hier nicht Moskau.“

„Und welche …“

„Freien Abzug, Fluchtfahrzeug, Fluchtgeld … das ganze Pipapo.“

Wer schaute hier eigentlich zu viele Krimis?

„Dann waren das wohl eher kleine …“

„Unterschätzen Sie die Typen nicht. Die hätten zum Äußersten gegriffen, Sie hätten ihre Augen sehen sollen. Die sind im russischen Knast groß geworden. Die kennen keine Skrupel …“

„Aber Sie haben auf sie eingeredet…“

„Und wie. Ich bilde mir ja nicht viel ein auf mein Rednertalent, das tun ja manche in meinem Metier. Ich weiß, dass ich kein begnadeter Redner bin. Aber ich bin – für meine Verhältnisse – zur Hochform aufgelaufen. Ich habe denen das alles ausgeredet, ich habe ihnen Hilfe angeboten, jede Unterstützung, wenn sie aus diesem Milieu rauswollen. Man muss doch immer an das Gute in den Menschen appellieren.

Aussteigerprogramme haben wir ja, schweineteuer, das darf ich Ihnen sagen. Und irgendwann … da muss wohl schon der Hahn gekräht haben … da haben sie es endlich eingesehen. Sie kamen nicht raus aus dieser Chose. Sie hätten alles auf eine Karte setzen können. Sie schienen auch wirklich drauf und dran … Jedenfalls durfte ich dann die Jungs von der Polizei anrufen …“

Die da schon lange vor dem Tor standen. Mit Blaulicht. Und wahrscheinlich auch schon am Haus. Oder gar drinnen?

„Erst so spät?“

„Ich war völlig unterzuckert, hundemüde – bin ich eigentlich immer noch. Aber Sie können sich nicht vorstellen, wie heilfroh ich war, als unsere Jungs ins Haus stürmten, die Kerle niederwarfen, ihnen Handschellen anlegten und sie wie Weihnachtspäckchen – Scherz beiseite – rausschafften. Wenn man unseren Jungs etwas nachsagen kann, dann jedenfalls nicht, dass sie nicht wissen, wie man mit solchen Schlägertypen umgeht.“

Da hatte L. wohl etwas anderes gesehen, eher wie zwei traurige Schafe, die sich ohne Widerstand abführen ließen. Aber vielleicht lebte er ja wirklich in einer anderen Welt.

„Aber warum …“

„Ich sehe, Sie haben aufgepasst, mein Lieber. Ich sollte Sie nicht unterschätzen. Natürlich haben diese beiden Ganoven das Kino in Brand gesteckt. Irgendjemand muss sie dazu angestiftet haben. Die ganze Stadt war da, es hätte Tote geben können. Aber wenn ich einmal raten darf, dann war das genau die Absicht. Da will jemand richtig Angst und Schrecken verbreiten. Das dürfen wir uns nicht gefallen lassen. Jetzt müssen Taten folgen, das sage ich Ihnen. Uns ist jedes Leben wichtig …“

„Aber wieso ..“

„Wieso diese Mistkerle dann bei mir auftauchen? Wollen Sie das fragen? Ist Ihnen das nicht klar? Mich kennt in dieser Stadt jeder. Jedem Zweiten habe ich in meiner langen, langen Arbeit als direkt gewählter Abgeordneter schon einmal geholfen, und sei es auch nur indirekt, meine Möglichkeiten sind ja begrenzt. Aber wohin flüchten solche Typen, wenn sie merken, dass ihnen die Polizei auf den Fersen ist? Und zwar nicht nur die üblichen Polizisten, sondern unsere Abteilung für OK …“

„OK?“

„Organisierte Kriminalität. Oder für was halten Sie das, was diese ganzen Gangs in unserer Stadt seit Jahren aufgebaut haben? Kinderstube vielleicht? Das sind richtig hartgesottene Jungs mit knallharten Regeln, richtige Familienclans ..“

„Wissen Sie …“

„Weiß ich. Ich habe mich lang genug mit dem Thema beschäftigt. Wissen Sie, wie oft ich darüber mit meinem Freund, dem Minister gesprochen habe? Sehen Sie. Und auch so etwas spricht sich herum. Am Ende vertrauen dir diese Typen, die rauswollen aus diesem Milieu, mehr als ihren Clanchefs, oder wie immer die bei denen heißen. Paten, glaub ich.

Dann flüchten die sich eben nicht ins Quartier ihres Paten, weil sie da wahrscheinlich nur eine blaue Bohne erwartet. Dann macht es klick bei denen und sie klingeln lieber bei mir. Da wissen sie, dass ich wenigstens verstehe, warum sie das tun. Sie wissen doch, wie schwer es den armen Schweinen fällt, die in so ein finsteres Milieu geraten sind? Oft ganz ohne eigenes Verschulden.“

„Und da …“

„Natürlich. Wohin denn sonst? Zu unserem überängstlichen Herrn Bürgermeister? Zu ihren Kumpels, die sie dann doch nur verraten? Ich sage Ihnen: Die beiden sahen nur noch einen Ausweg …“

„Erstaunlich …“

„Genau das. Ich denke, damit sind Sie jetzt auf dem Laufenden. Schreiben Sie ruhig, wie erleichtert ich … nein … wir sind, dass das alles so glimpflich abgelaufen ist, dass wir unseren tapferen Polizisten zutiefst dankbar sind. Und dass wir uns bestätigt sehen in unserer Arbeit für mehr Sicherheit in dieser unserer Stadt. Sie kriegen das schon hin. Da bin ich mir sicher. Einen Guten Tag noch.“

Und beendet war das Gespräch. Herr L. summte der Kopf. Er versuche noch einmal, Oleg per Telefon zu erreichen.

Aber Oleg ging nicht ran.

Und hätte er jetzt auf seinen summenden Kopf gehört, wäre er nach Hause marschiert und hätte sich mit einer Wärmflasche ins Bett gelegt. Aber er hörte nicht auf seinen Kopf. Was sich als Fehler herausstellen sollte. Aber erst eine Woche oder sieben Tage später. Wie immer, wenn eine richtige Erkältung Herrn L. aus den Schuhen kippte.

Die Serie „Was passiert jetzt …“

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