LeserclubLassen wir Herrn L. und Don Leone durch die Stadt tuckern auf der roten Vespa. Sie entkommen uns nicht. Wir wissen ja, wohin sie fahren. Aber warum sitzt L.s Kollege Stachelschwein so derangiert an seinem Schreibtisch? Hat ihn das Gespräch mit dem Chef so deprimiert? Warum aber blättert er in alten Ordnern? Will er nachlesen, was er auch damals nicht losgeworden war an die Abteilung Satzspiegel?

Denn er stammt ja noch aus Zeiten, in denen Redakteure lernten, auf Zeile und Spalte genau zu schreiben. Ach ja: pünktlich auch noch. Wenn der Text nicht zum Redaktionsschluss vorlag, gab es ein paar heiße Ohren. Eigentlich nicht für Kollege S. Dazu war er zu lange im Geschäft. Was aber auch ihm nicht ersparte, dass er eine große Sammlung nie veröffentlichter Artikel besaß, aus dem Blatt geflogen, weil noch Unvorgesehenes geschah – ein Unfall, ein Absturz, ein Naturereignis. Oder weil jemand da oben in den Etagen der Halbmächtigen Bauchdrücken bekam. Oder ein paar feuchte Freundschaften nicht riskieren wollte.

Wie an dem Tag, an dem S. kurzerhand abgeordert worden war, statt des noch etwas misstrauisch beäugten jungen Kollegen L. die Premiere des neuen Diva-Konzerts zu beschreiben. Fotos waren sogar schon fertig. Richtig feurige Hexen-Glimmer-Bilder, von der Künstlerin selbst zur Verfügung gestellt. Mit dem freundlichen Hinweis, es wäre nicht schlecht, wenn die geladenen Gäste der Premiere zuvor das Buch eines bekannten russischen Schriftstellers gelesen hätten, in dem es um eine kämpferische junge Frau, einen verzweifelten Dichter, einen gewissen Pontius Pilatus und die dümmste Entscheidung seines Lebens ging. Und natürlich: einen gewissen Voland und seine Entourage. „Es lohnt sich!“, schrieb sie noch.

S., der eigentlich nur ungern derart in die Kultur beordert wurde, nahm den Hinweis ernst und war dann wohl der einzige in der Vorstellung, der das Buch tatsächlich gelesen hatte. Vielleicht, weil er auch der einzige war, der nach dem einzigen Exemplar in der städtischen Bibliothek gefragt hatte – schon etwas angegilbt, laut Karteikärtchen seit Jahren nicht ausgeliehen.

In seinem alten Ordner fand S. gleich mehrere Varianten seiner Kritik, die er über das Konzert geschrieben hatte. Das hier war die dritte, die – so fand S. – sehr gut auf die erste Kulturseite gepasst hätte.

Teufel über L.?

Premierenpublikum lässt Margarita aus allen Wolken stürzen

Vielleicht hätte im Programmheft so etwas wie ein Leitfaden durch diesen wildesten aller wilden Abende gut getan, den wir mit Leipzigs begnadetster Chansonniere am gestrigen Abend erleben durften. Ein kleiner roter Faden für alle, die in der kurzen Zeit seit Ankündigung des neuen Programms der Diva und dem Orchestergeschmetter, bevor sich der Vorhang hob, nicht die Zeit gefunden haben, das nicht mehr ganz so moderne Buch „Der Meister und Margarita“ zu lesen. Denn dieses Buch hat sich die nun erstmals mit einem Soloprogramm startende Sängerin zur Grundlage genommen für einen Liederreigen, in dem es nicht nur deftige russische Klänge gab, schmachtende Lieder mit der Stimmgewalt eines nicht zu bändigenden slawischen Temperaments, sondern auch jede Menge Anspielungen auf das Buch, auf ein in Flammen stehendes Moskau und einen Teufel, der mit drei unheimlichen Gehilfen die ganze Stadt in Aufregung versetzt.

In helle Aufregung, muss man sagen. Denn wer das Buch nicht kannte, durfte durchaus das Gefühl haben, dass die Sängerin, die sich an diesem Abend nicht nur in ein schillerndes Hexenkostüm gezwängt hatte, sondern tatsächlich in die Rolle der furiosen Margarita geschlüpft war, nicht vom fernen Moskau sang, sondern von einer kleinen, eher beschaulichen Stadt, die der unseren manchmal zum Verwechseln ähnlich schien.

Ein Kunstgriff, der so manchem Zuschauer wohl schon in jenen Momenten einen leichten Schauer über den Rücken rieseln ließ, als Margarita ihren Voland über die Dächer der Stadt fliegen ließ und Geld regnen ließ, ein Regen aus lauter riesigen bunten Scheinen, der tatsächlich von der Saaldecke herunterschneite auf ein Publikum, das eben noch steif und feierlich auf ein besinnliches Chanson-Konzert gewartet zu haben schien und nun begeistert die bunten Scheine aufzufangen versuchte. Das ergab, wie man sich denken kann, schon eine gewisse Unruhe, erst recht, wenn man bedenkt, dass die Diva für dieses erste Konzert nach dem bis heute nicht aufgeklärten Tod ihrer langjährigen Partnerin die creme de la creme unserer Stadt eingeladen hatte.

Auch wenn der Bürgermeister lieber seinen Kulturdezernenten geschickt hatte und auch aus anderen staatlichen Stellen eher die Fachvertreter zu sehen waren, die man von solchen Empfängen in letzter Zeit kennt. Dafür war so gut wie alles da, was im umtriebigen Wirtschaftsclub unserer Stadt heute eine wichtige Rolle spielt und mit eindrucksvollen Investments (unsere Zeitung berichtete) die Zeit des Stillstands und des Verfalls in unserer Stadt beendet hat. Ein eindrucksvolles Publikum, das die beliebte Sängerin da mit durchaus russisch mitreißenden Melodien einzubinden versuchte in ihren Hexenflug über ein Moskau, das sich im Lauf des Abends immer wieder zu verändern schien – mal goldene Weltmetropole, mal beschauliche Idylle, mal gespenstisches Dächermeer.

Fast erwartete man dabei, dass Margarita beim nächsten Lied einen neuen musikalischen Begleiter mit rot-schwarz flatterndem Mantel auf die Bühne rufen würde – einen Voland, der ihr ebenbürtig die Eroberung einer Stadt besingen würde, in der sich alles in Gold verwandelte. Ganz große Kunst, aber auch eine Erwartung, die sich nicht erfüllte. So wenig wie die spürbare Hoffnung im Publikum, die fiktive Geschichte der goldenen Stadt würde sich jetzt in Euphorie verwandeln, in eine glückliche Zukunft, nach der man sich nach Jahren der Ungewissheit und der Sorge natürlich sehnen durfte.

Doch je mehr diese imaginäre Stadt zu glänzen schien, umso bissiger wurden die Lieder, die diese Margarita sang. Und so Mancher im Saal schien sich auf einmal gemeint zu fühlen, als Foxtrott- und Schieber-Melodien den Saal in die Goldenen Zwanziger zurückzuversetzen schienen. Die Helden, die Margarita jetzt besang, ähnelten eher den zwielichtigen Gestalten aus der „Dreigroschenoper“.

Was dann nicht mehr überraschte, war der zunehmend freche und provokante Ton der Lieder im Stil eines Kurt Weill, als die ersten Buh-Rufe aus dem Saal ertönten und die Unruhe gerade auf den besseren Plätzen sichtlich zunahm. Vielleicht hätte an dieser Stelle eine beruhigende Moderation geholfen und die Stimmung im Saal noch einmal beruhigt. Aber eine solche Moderation war nicht geplant, so dass sich mit zunehmender Unruhe auch die ersten Reihen zu leeren begannen und der Abend sich immer mehr in eine Flucht aus dem imaginierten Moskau verwandelte. Die Sängerin sang tapfer gegen den Tumult an, vielleicht für den verbleibenden Rest eines hin- und hergerissenen Publikums, das durchaus noch erfahren wollte, wie sie diese eigene Interpretation des Margarita-Motivs beenden würde.

Aber dazu kam es nicht. Vielleicht war auch das beabsichtigt: kein Abschied vom Meister. Keine Rettung durch Voland. Ein dissonant verstummendes Orchester und eine zur Salzsäule erstarrte Sängerin, die in einen halbleeren Saal hineinschaut, aus dem – nach einer Unendlichkeit der Stille – nur spärlicher Applaus tröpfelte. Das so furios angekündigte neue Programm unserer noch eben bewunderten Sängerin war dann wohl ein kapitales Fiasko.

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Nicht dass dieser Beitrag so erschienen wäre. Erklärungslos blieb er ungedruckt. Stattdessen kam ein Beitrag über ältere Damen, die Socken für bedürftige Kinder strickten. Der war eigentlich für die Weihnachtsausgabe geplant – aber Löcher müssen gefüllt sein. Und nur gerüchteweise erfuhr S., dass das beharrliche „Nein“ wohl doch vom Verlagsinhaber kam. Der war zwar auch nicht beim Konzert gewesen, war aber mit mehreren der Herren, die S. noch in Variante zwei seines Artikels zitiert hatte, zumindest etwas näher bekannt.

Er hatte auch noch einige der überdeutlichen Rufe aus Richtung dieser Herren in seinen Artikel eingebaut, die er zuvor durchaus für kontrollierte Meister der gewinnträchtigen Geschäfte gehalten hatte, die wussten, wann man ein wenig Emotion blicken ließ – und wann man lieber in aller Stille vorging.

Einige von ihnen waren durchaus unerwartet in Rage geraten, als dem eher traurigen Belinda-Lied ein regelrechter Fandango der Vorwürfe an lauter dubiose Tiere folgte.

Der nach der zweiten Revision entfernte Abschnitt ging so:

Kaum war das getragene, regelrecht zu Herzen gehende „Ein Vogel im Winde / Belinde / War so schön“ verklungen, setzten unverhofft ein regelrechter Kinderreigen und Hexentanz an. Anfangs noch fast verspielt in den Saal gesungen, ohne Begleitung, als wollte Margarita jemanden aus seinem Bau locken: „Fuchs, du hast die Gans gestohlen“. Das war ein durchaus überraschender Einfall, das Tempo erhöhte sich schon beim Singen, die Rothaarige tanzte, stampfte und ließ einen ganzen Reigen wilder Tiere über die Bühne hetzen – der Fuchs stahl die Gans, der Bär den Honig, der Wolf das Lamm … An dieser Stelle erfasste der ungestüme Takt auch den Saal. Aber wohl nicht so, wie die Sängerin erwartet hatte, denn hier begannen die Buhrufe, erhoben sich die ersten Zuschauer und wie ein Wirbelsturm baute sich auch im Publikum eine Aufregung auf, die dann im Lauf des Liedes und des Abends immer wieder kulminierte. Wer mittendrin saß, konnte durchaus den Eindruck gewinnen, das Publikum spiele prächtig mit, als wäre es tatsächlich jenes Moskauer Publikum aus dem Varieté, in dem der russische Schriftsteller die gefälschten Geldscheine regnen ließ.

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Auch S. hatte sich damals noch einen zertretenen Geldschein unterm Stuhl hervorangeln können. Er hatte das seinerzeit nicht wirklich so ernst genommen. Na gut: Der Chef selbst war irgendwie pikiert, weil seine Geschäftsfreunde pikiert waren. Da konnte man nichts machen. Ihnen hatte das Margarita-Programm nicht gefallen. Und irgendwie behielten sie ja Recht. Es wurde nie wieder aufgeführt. Die enttäuschte Künstlerin verlor ihre Spielstätte, fand eine neue. Aber heute redete niemand mehr von ihr.

Dass der Geldschein noch in S.s Ordner steckte, war wohl eher Zufall. Nur schwante ihm jetzt doch etwas, als wenn er damals wirklich nur die große Zahl gesehen hätte: 1.000.000 Golddukaten. Eine Art Spaß-Schein. Aber das hatten wohl damals auch einige im Saal schon genauer gelesen. Denn wenn man den kleinen Text darunter mitlas, stand da: „1.000.000 Golddukaten / Eintritt ins Paradies.“

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