Ein Reporter des „Spiegel“ habe „in großem Umfang eigene Geschichten manipuliert“. Mit dieser Enthüllung ging am Mittwoch, den 19. Dezember, das Nachrichtenmagazin selbst an die Öffentlichkeit. Der Journalist Claas Relotius hat in Zeiten der Glaubwürdigkeitskrise zahlreiche Reportagen mit erfundenen Zitaten und Begebenheiten ausgeschmückt. Der Fall dürfte grundsätzliche Diskussionen darüber in Gang bringen, ob es zur Aufgabe von Journalismus gehört, gute „Geschichten“ zu erzählen.

Lügenpresse. Das ist ein Kampfbegriff, der es in den vergangenen Jahren zu einiger Berühmtheit gebracht hat. Verwendet wurde er freilich schon viel früher – unter anderem im Nationalsozialismus. Insbesondere Pegida und die folgenden „Bürgerbewegungen“ haben den Begriff spätestens seit Ende 2014 wieder salonfähig gemacht. In jenem Jahr wurde er folgerichtig zum „Unwort des Jahres“ gewählt.

Bei der AfD ist man zwar etwas zurückhaltender mit diesem Wort – und verwendet stattdessen das vermeintlich harmlose „Lückenpresse“ – , meint aber in der Regel ähnliches wie die Wutbürger auf der Straße.

Anders sind Sätze, wie sie jüngst nach dem Terroranschlag in Straßburg in einer Pressemitteilung der sächsischen AfD-Fraktion zu lesen waren, kaum zu deuten: „Die Staatsmedien liefern hier einen weiteren Beweis dafür, dass sie keine neutrale Berichterstattung leisten wollen, sondern ideologisch indoktriniert sind. In der linksgrünen Meinungswelt darf es einfach keine muslimisch-religiösen Mörder geben, nur psychisch auffällige Einzeltäter mit krimineller Vergangenheit.“

Die meisten Journalist/-innen weisen entsprechende Vorwürfe stets zurück, da Verallgemeinerungen stets problematisch sind (Sachsen ist ausschließlich rechtsextrem wäre auch so eine). Oder verweisen, wie auch die L-IZ.de, auf den strikt lokalen Charakter der (tatsächlich) selbst erlangten Informationen in einem so nahen Umfeld, dass Falschberichte praktisch unmöglich sind. Oft heißt es in der Branche, man bemühe sich darum, Fakten zu liefern, und Meinungen beziehungsweise Kommentare als solche zu kennzeichnen. Fehler lassen sich jedoch nicht immer vermeiden. Von Einfluss aus der Politik oder sonstigen manipulativen Absichten könne keine Rede sein. Diese Position wird künftig schwerer zu verteidigen sein.

Betrug in der eigenen Redaktion

Am Mittwoch, den 19. Dezember, ging der „Spiegel“ mit einer (logischerweise) Exklusivgeschichte in eigener Sache an die Öffentlichkeit, was zumindest im Medienbetrieb für ein massives Erdbeben sorgte: Der Journalist Claas Relotius soll die Redaktion in mehreren Fällen betrogen haben.

Er hat sich offenbar in zahlreichen Texten wesentliche Elemente einfach ausgedacht: Personen, Orte, Begebenheiten. Seine Reportagen hat das belebt – erst vor wenigen Tagen erhielt er den Deutschen Reporterpreis 2018 für „Ein Kinderspiel“. Relotius hatte scheinbar mit einem jungen Mann über den Bürgerkrieg in Syrien gesprochen.

In der Jury-Begründung für die Auszeichnung heißt es: „Jahrelang hat Claas Relotius, gemeinsam mit syrischen Mitarbeitern, ihm hinterher gespürt und ihn dann per Handy interviewt. Und dann einen Text geschrieben von beispielloser Leichtigkeit, Dichte und Relevanz, der nie offen lässt, auf welchen Quellen er basiert.“

Mittlerweile ist auf der Homepage der Organisatoren zu lesen: „Wir sind entsetzt und wütend über die geradezu kriminelle Energie, mit der Claas Relotius auch uns getäuscht hat.“ Die Jury werde nun über eine Aberkennung der Preise beraten – es sind insgesamt vier.

Betroffen zeigte sich auch Frank Überall, der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV): „Der vermeintliche Reporter hat nicht nur dem ‚Spiegel‘ großen Schaden zugefügt, sondern die Glaubwürdigkeit des Journalismus in den Dreck gezogen.“ Vorbildlich sei jedoch die Art und Weise, wie der „Spiegel“ mit dem Betrugsfall umgegangen ist.

Das Thema des Tages

Bis zum Abend veröffentlichte das Magazin auf seiner Homepage fünf Artikel zu dem Thema: neben der ausführlichen Rekonstruktion des seit August amtierenden Chefredakteurs Ullrich Fichtner unter anderem Texte über das Versagen des internen Sicherungssystems und eine Kommission aus erfahrenen Journalist/-innen, die den Vorgang aufarbeiten soll.

Die Artikel von Relotius wolle man – lediglich um einen Hinweis ergänzt – zunächst unverändert im Archiv belassen, „auch um transparente Nachforschungen zu ermöglichen“. Andere Redaktionen, für die Relotius ebenfalls tätig war, kündigten bereits an, seine dort veröffentlichten Artikel zu überprüfen.

Unter Journalist/-innen waren die Enthüllungen das dominierende Thema des Tages. Unter anderem zahlreiche „Spiegel“-Mitarbeiter drückten ihre Bestürzung über den Fall aus. Kollegen anderer Medien lobten den „Spiegel“ anfangs für seine Aufarbeitung.

So schrieb der in Österreich gerade als Journalist des Jahres ausgezeichnete Armin Wolf: „Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Medium einen derartigen internen Super-Gau je so vorbildlich und transparent selbst öffentlich gemacht hat wie der ‚Spiegel‘ mit dieser Geschichte.“

Kritik und offene Fragen

Im späteren Tagesverlauf kamen jedoch immer mehr kritische Stimmen dazu. Die taz-Redakteurin Johanna Roth schrieb, dass es unnötig sei, „einen Menschen so vernichtend vorzuführen“. Andere störten sich daran, dass der Artikel über den Betrug einen ähnlichen Ton anschlug wie die Reportagen von Relotius.

Genau das sei aus Sicht vieler Journalist/-innen eines der wesentlichen Probleme: Dass häufig jene Reportagen ausgezeichnet würden, die die beste „Geschichte“ erzählen. Die Realität sei jedoch häufig widersprüchlich, banal und ergebe am Ende nicht immer ein rundes Ganzes. Auch die große Anzahl der Preise sei zu hinterfragen.

Welche Folgen und Konsequenzen dieser Fall haben wird, ist noch nicht absehbar. Klar scheint, dass der „Spiegel“ die internen Abläufe überarbeiten wird und andere Medien bald wohl über weitere Betrugsfälle berichten müssen. Jene Menschen, in deren Weltbild es keine unabhängigen Medien, sondern lediglich die „Lügenpresse“ gibt, werden sich vermutlich bestätigt fühlen. Allerdings erscheint es fraglich, ob diese Personen überhaupt jemals vom Gegenteil zu überzeugen wären.

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