Stur konnte er sein. Auf eine freundliche Art stur. Es ist eine dieser Eigenschaften, die einen guten Journalisten ausmachen. Das macht es nicht immer leicht, auszukommen mit unsereins. Aber anders entstehen keine Zeitungen. Jedenfalls keine, die sich wirklich um das kümmern, was wichtig ist. Und so dockte Matthias Weidemann 2011 nicht ganz zufällig bei der Leipziger Internet Zeitung an. Auch um hier noch einmal auszuleben, was Lokaljournalismus wirklich so aufregend macht.

Und so unersetzlich. Denn nirgendwo sonst kann man den noch neugierigen Lesern zeigen, was in ihrer Welt tatsächlich an Aufregendem passiert. Und an Wichtigem. An Dingen, die es einfach gut ist zu wissen. Weil man sonst nicht wirklich weiß, was einen wirklich angeht und betrifft.

Und dabei kam Matthias aus einer völlig anderen Welt zu uns, aus der Welt von „Bild Leipzig“, wo er zuvor über 20 Jahre ebenfalls Lokaljournalismus gemacht hat. Nur etwas anders. Eigentlich eine völlig andere Welt. Aber wenn man sich bei der Arbeit immer wieder mal über den Weg läuft, merkt man: Wer es wirklich ernst meint mit dem Lokaljournalismus, der tickt so anders nicht. Auch wenn sein Blatt die Welt eine ganze Ecke anders sieht. Und andere Schwerpunkte setzt. Und so weiter. Das setzt Grenzen. Auch in dem, worüber einer schreiben kann und soll. Und vielleicht auch darf.

Die Themen vor unserer Nase

Aber was passiert, wenn im Kopf doch immer noch dieser Wunsch rumort, ganz irdischen Lokaljournalismus machen zu wollen? Mit Leuten, die genauso neugierig sind auf das, was da vor unserer Haustür tatsächlich passiert? So kam Matthias nach seinem Ausscheiden bei „Bild“ zur L-IZ. Und stürzte sich in die Arbeit, schrieb über den Zoo, das Naturkundemuseum, die Universitätsklinik und die Querelen um das Leipziger Einheits- und Freiheitsdenkmal. Ja, die gab es schon 2011. Bei manchen Debatten wundert man sich nur, wie alt sie sind und wie sie über Jahre immer wieder um sich selbst kreisen.

Aber seine erste auf der L-IZ veröffentlichte Geschichte schrieb er über den Südraum, seinen Südraum. Auf den war er besonders neugierig, denn das war seine eigentliche Wahlheimat. Dabei war er ein gebürtiger Franke, hatte sein Handwerk auch noch in jener alten und scheinbar unveränderlichen Bundesrepublik gelernt, an die sich heute wirklich nur noch die Älteren erinnern. Und einige der Jüngeren versuchen sie wiederzubekommen, weil sie sich nicht damit abfinden können, wie sehr sich die Welt seit 1990 verändert hat.

Für Matthias gar kein Thema. Denn er war auch ein bisschen anders als manche seiner biederen Jahrgangsgleichen. Das merkte man meist erst, wenn man mit ihm über seine Leidenschaften sprach. Zu denen gehörten Comics und Graphic Novels. Im Lauf der Jahre hatte er sich eine riesige Sammlung zugelegt.

Und das passte. Passte auch mit dem humorvollen Mann zusammen, den auch die Kollegen bei „Bild“ kennenlernten. Denn wer sich diese kindliche Freude an Bilderwelten erhält, der wird nicht verbiestert und verbohrt. Für den ist die Welt immer ein Ort der Möglichkeiten. Auch wenn Marvel und Superman nicht unbedingt in dieser Realität aufschlagen.

Das utopische Moment in der Welt

Und noch eine Leidenschaft hatte er, die er aber erst 2021 verriet, als der polnische SF-Autor Stanislaw Lém 100 Jahre alt geworden wäre: Sein Faible für die – anspruchsvolle – Science Fiction. Wer mit Science Fiction aufgewachsen ist, der hat auch dieses Denken über die Welt verinnerlicht. Der weiß, dass es keine Alternativlosigkeiten gibt, bestenfalls kleinkarierte Politiker/-innen, die unfähig sind, die Möglichkeiten zu sehen, die jeder Moment bereithält.

Wäre es nicht so: Wir hätten nichts zu berichten. Die Welt wäre unveränderlich – so wie in den Köpfen einiger verbohrter Nostalgiker, die schon die Panik kriegen, wenn sie erfahren, dass die Dinge sich ändern. Dabei ändern sich die Dinge. Ständig. Manchmal auch nicht zum Guten. Das stimmt.

Denn im Lauf der Jahre machte sich auch die Krankheit nach und nach bemerkbar, die Matthias am Ende an sein Haus fesseln würde, das er sich bei Groitzsch gekauft hatte. Mitten in jenem Neuseenland, dem er dutzende Artikel gewidmet hat. Denn es lag ihm wirklich am Herzen. Er begleitete die Entstehung der Seenlandschaft, die kühnen Versprechen der Kanalbauer und den tapferen Kampf der Pödelwitzer um die Rettung ihres Dorfes.

„Pödelwitz wird weggebaggert“ betitelte er eine seiner ersten Geschichten über das Dorf an der Tagebaukante.

Zehn Jahre später konnte er titeln: „Pödelwitz ist gerettet. Und nun?“

Das sind Geschichten, die nicht das Leben schreibt, sondern die Menschen bewirken. Die zeigen, dass Aufstehen und Kämpfen sich lohnen. Auch wenn es lange dauert und man immer auf den Widerstand derjenigen trifft, die immer so weitermachen wollen, wie sie es schon immer getan haben.

Und so interviewte er Jens Hausner, den wichtigsten Mann bei der Rettung von Pödelwitz, den einstigen „Stern“-Kolumnisten Holger Witzel, der mit „Schnauze Wessi“ einige unerhörte Wahrheiten über die Probleme zwischen Ossis und Wessis schrieb, die meist nur in der Rubrik „Humor“ Erwähnung finden, oder auch Christian Führer, den einstigen Nikolaipfarrer, der zu den zentralen Gestalten der Friedlichen Revolution gehörte. Ihn fragte er zu Sinn und Unsinn eines Leipziger Freiheitsdenkmals.

Schöne neue Medienwelt

Er widmete sich den ganz normalen Dramen des Leipziger Alltags wie dem tragischen Tod einer Mutter und ihres Kindes, machte einen „Selbsttest am Leipziger Arbeitsmarkt“, in dem er zeigte, wie ungleich die Chancen am Arbeitsmarkt tatsächlich verteilt sind, und wie sehr das Teil eines gewollt dysfunktionalen Systems ist.

Und natürlich sah er auch mit seiner eigenen Erfahrung in der Medienwelt auf die Kollegen in den anderen Zeitungen. 2018 etwa, als im Madsack-Konzern, zu dem die LVZ gehört, alles neu organisiert wurde. Ein Seitenblick, der die ganzen Probleme zeigt, die die schöne neue Medienwelt nach dem Raubzug der amerikanischen Internet-Plattformen beuteln.

Journalisten schreiben immer noch viel zu selten über die Zerstörung ihrer eigenen Metiers. Obwohl das Folgen hat – bis in die Politik und die Radikalisierung der Menschen hinein.

Bei vielen seiner Geschichten werden die Leser sich erstaunt sagen: Mensch, das hab ich glatt vergessen! Manches verschwindet eben auch einfach, was noch vor Jahren für jede Menge Remmidemmi in der Medienwelt und Öffentlichkeit sorgte – wie das einst auch von der Leipziger Stadtverwaltung umworbene Unternehmen Unister.

In den letzten Jahren wurden die Beiträge von Matthias natürlich seltener. Seine Krankheit schränkte ihn immer mehr ein. Aber er wollte weiter arbeiten. Zu wichtig war ihm das Projekt L-IZ. Und so hämmerte er noch Meldungen in die Tastatur, als an Reportagen und Interviews nicht mehr zu denken war.

Es war ein langer und bedrückender Abschied von einem humorvollen und liebenswerten Kollegen, der es wenigstens bis zu jenem imaginären Zeitpunkt schaffen wollte, an dem deutsche Politiker das Renteneintrittsalter angesetzt haben. Doch was hat man davon, wenn man es mit Ach und Krach schafft und dann doch gehen muss? Was bleibt?

Solange unser Server arbeitet, wenigstens seine Texte. Wer sie nachlesen will, findet sie hier.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar