Gerade nimmt ja die Kurt-Masur-Gedächtnis-Musik in Leipzig neue Bergschleifen, geht es einigen Akteuren gar nicht schnell genug, den im Dezember 2015 verstorbenen Gewandhauskapellmeister irgendwie großartig und dauerhaft zu ehren im Leipziger Stadtraum. Schon seit Jahren geht zumindest Roland Mey dieser Zirkus auf den Keks. Jetzt hat er eine neue Streitschrift veröffentlicht.

Darin bekommen neben Kurt Masur auch der ehemalige Thomaskantor Hans-Joachim Rotzsch und ein paar Direktoren der Musikhochschule ihr Fett weg. Letztere aus unterschiedlichen Zeiten und unterschiedlichen Begriffsstutzigkeiten. Die jüngeren eher dafür, dass sie die Aufarbeitung der Geschichte der Hochschule nicht allzu ernsthaft angegangen sind und angehen – gerade was die Verwicklung ihrer Vorgänger in die diversen staatlichen Diktaturen betrifft. Dabei hat Roland Mey, der einst im Bürgerkomitee Leipzig aktiv war und für die SPD im Stadtrat saß, vor allem den letzten Rektor im Nazi-Reich auf dem Kieker, Johann Nepomuk David, der die Hochschule von 1942 bis 1945 leitete und eine Hitler-Motette schrieb.

Auf einen späteren Rektor – Professor Rudolf Fischer – ist Mey vor allem deshalb sauer, weil dieser Mann augenscheinlich nur durch sein SED-Parteibuch zum Leiter der Einrichtung wurde, ansonsten aber eher durch musikalische Unbegabtheit auffiel. Und das mit dem Parteibuch meint Mey ernst, der noch einer von jenen selten gewordenen SPD-Urgesteinen ist, die 1989/1990 die alte Sozialdemokratie auch deshalb wiederbelebten, weil sie das Unwesen der alten Kader-Politik beendet sehen wollten, die Ämterverteilung unter hochgedienten Genossen, Duz-Freunden und Karrieristen.

Und da könnte Mey ja eigentlich ruhiger geworden sein nach der „Wende“, hat sich doch alles zum Besseren gewendet. Aber hat es das? Mey zweifelt, je älter er wird, immer mehr daran und fragt sich, warum sich dann die Hochschule für Musik und Theater so schwer tut, ihre Geschichte im 20. Jahrhundert aufzuarbeiten.

Eine wirkliche Aufarbeitung ist so ein Satz zur Geschichte der Hochschule auf ihrer Homepage nicht wirklich: „Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten im Januar 1933 wurde das Leben am Konservatorium zunehmend ideologisiert. Mit Ausbruch des zweiten Weltkriegs kam der Studienalltag allmählich zum Erliegen. Im Februar 1944 trafen Bomben das inzwischen evakuierte Konservatoriumsgebäude und zerstörten unter anderem den prachtvollen Konzertsaal.“

So werden alle Brüche, Verwicklungen und Irrwege zu einer Art höherem Fatum, an dem niemand schuld ist – außer die „Machtergreifung der Nationalsozialisten“ irgendwie. Allein mit diesem weichgespülten Satz lokalisiert sich die Geschichtsaufarbeitung der HMT irgendwo in den 1950er Jahren, oder um einmal Wikipedia zu zitieren: „Die Geschichtsbücher der unmittelbaren Nachkriegszeit verwendeten oft den Begriff ‚Machtergreifung‘, womit die breite Unterstützung der NSDAP und damit die Mitverantwortung für den Aufstieg Hitlers zurückgewiesen werden sollte. Diese Begriffsverwendung schreibt dem Volk somit eine passive Rolle zu und stellt die Machtübernahme als eine Art Staatsstreich dar, obwohl Hitler formal legal ins Amt kam. Erst ab den 1970er Jahren wird die Begrifflichkeit zunehmend auch in den Geschichtsbüchern problematisiert. Seit den 1980er Jahren wird mitunter auch die neutralere Bezeichnung ‚Machtübergabe‘ statt des als propagandistisch belastet und irreführend geltenden Ausdrucks Machtergreifung verwendet.“

Da muss man nicht lange nach Worten suchen, um zu verstehen, warum Roland Mey nicht aufhören kann, wütend zu sein.

Und warum er noch viele Jahre nach dem Ausscheiden aus Arbeitsleben und aktiver Politik so einen Satz schreibt: „Die Eliten definieren und reproduzieren sich heute durch ihr aufgebautes und ständig gepflegtes Beziehungsgeflecht aus sich selbst heraus und nicht mehr über Fähigkeiten, Leistungen oder etwa Charaktere.“

Das schrieb er nicht im Jahr 1986, als die alte Nomenklatura der DDR so langsam merkte, wie es zu bröckeln begann, sondern im Jahr 2016. Und Aufhänger ist ihm dabei der völlig überzogene Umgang mit dem Super-Preisträger Kurt Masur, den einige Leute auch schon zum Fackelträger der Friedlichen Revolution gemacht haben. Mit der LVZ hat Mey dazu schon einige Sträuße ausgefochten. Am 11. Mai 2009 erklärte die Zeitung den Aufruf der Leipziger Sechs vom 9. Oktober 1989 schon mal zu einem „Beitrag zum Durchbruch der Friedlichen Revolution“. Das war der Aufruf ganz und gar nicht. Das ist Geschichtsklitterung. Wichtig war er nicht einmal als Aufruf zum Gewaltverzicht, sondern als erste Leipziger Äußerung von drei hochrangigen SED-Funktionen (plus Kurt Masur, den Kabarettisten Bernd-Lutz Lange und einen Theologen) zur Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen und zum Dialog, wie es im Partei-Slang seinerzeit hieß. Ein Dialog, der bis zu diesem Tag, als 100.000 Menschen demonstrierten, rein fiktional war – versprochen und nie eingelöst.

Und Gewalt ging auch von den Demonstranten nicht aus. Die hatten auch all die Wochen vorher friedlich demonstriert. Die Stimmung angeheizt hatten in diesen Tagen die SED selbst, die LVZ (mit bis heute berüchtigten „Leserbriefen“) und die Stasi, die in der ganzen Stadt Gerüchte streute. Irgendwer aus dem Apparat muss ja dann auch die Blutkonserven und Leichensäcke bestellt haben. Natürlich ging der Riss damals mitten durch die Parteielite, gab es die Hardliner im Gefolge von Erich Honecker und Erich Mielke und die eher Gesprächsbereiten, zu denen die drei beteiligen Leipziger Funktionäre gehörten.

Aber es wirkt natürlich, da hat Mey Recht, etwas peinlich, wenn das Gesprächsangebot erst dann kommt, wenn die Funktionäre befürchten müssen, dass die schiere Menge der Demonstranten ihre Macht einfach hinwegspült.

Kurt Masur war nur deshalb so wirksam, weil er als Person stadtbekannt war. Die Leipziger verbanden ihn natürlich aufs engste mit dem Neuen Gewandhausbau und einem doch nach wie vor hochkarätig arbeitenden Orchester. Und – das muss man ihm zugestehen – Masur löste das Versprechen zum Dialog ein: Die Gewandhausgespräche unter seiner Leitung gehören eindeutig zur Selbstverständigung der Leipziger im Herbst 1989.

Aber das mit dem Vorher und dem Nachher haben seither dutzende Institutionen und Fremdbewunderer durcheinandergebracht. Denn Masur wurde auf diese Weise politisch erst wirksam, als die Revolution längst über den Berg war. Die eigentliche Revolution haben andere angeschoben, erlitten, getragen, haben Schikanen und Prügel erlebt, haben sich trotz Überwachung immer wieder zusammengetan und waren dabei geblieben gerade dann, als die Proteste ab dem Sommer1989  immer heftiger mit rigider Staatsgewalt konfrontiert waren.

Roland Mey kreidet Masur seine Staatsnähe an – dazu gehört für ihn auch die Ehrenwache am 24. September 1970 am Sarg des verstorbenen SED-Bezirkschefs Paul Fröhlich, der hauptverantwortlich war unter anderem für die Sprengung der Paulinerkirche 1968.

Masur stand nicht allein an seinem Sarg – da standen später auch die Genossen Ulbricht, Honecker, Hager, Mittag … Immerhin galt Fröhlich bis zu seinem frühen Tod mit 57 als möglicher Nachfolger von Ulbricht. Mit seinem Tod erst wurde der Weg frei für Erich Honecker. Masur stand dann mit anderen namhaften Funktionären aus der Leipziger Kultur am Sarg. Diese Ehrenwacherei scheint dann im Lauf der Zeit doch aus der Mode gekommen zu sein. Zumindest bezeugt sie, wie lange sich selbst noch die feudalsten Formen des Stalinismus in der DDR und in Leipzig erhalten haben – woran Paul Fröhlich nicht ganz unschuldig ist.

Das Heft gab’s für die Redaktion jetzt erst einmal als Muster-Exemplar, in Kürze will Roland Mey es für eine richtige Auflage in Auftrag geben.

Wer die Streitschrift bestellen will, kann sich per E-Mail an den Autor wenden: schallmey-verlegung@web.de.

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