Wie weit kommt man, wenn man sich mutig in „Der Untertan“ stürzt? Schon die ersten 30 Seiten sind ein Parforce-Ritt – den Diederich Heßling, den wir hier kennenlernen, niemals machen würde. Denn Diederich ist eigentlich ein Leisetreter. Ein freundlicher Bursche, wenn man ihn erstmals kennenlernt, „ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt“.

Was sich so beiläufig liest, dass man erst später stutzt, wenn man über die Schroffheiten in seinem Auftreten stolpert. Denn was Heinrich Mann hier scheinbar wie eine liebevolle Zusammenfassung einer schönen Kindheit hingeschrieben hat, ist genau das Gegenteil derselben. Schon nach wenigen Seiten erfahren wir, dass der Papierfabrikant Heßling nicht nur mit seinem Personal augenscheinlich nach damaligen Maßstäben „streng und väterlich“ umging, sondern auch mit seinem Sohn, den er regelmäßig und oft genug grundlos verprügelt.

Eigentlich ist es schon nach den ersten Zeilen so weit, dass man erfährt, wie der Vater seinen Sohn zum Häkchen gebogen bzw. geprügelt hat – denn „Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich solange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr Heßling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm.“

Was muss eigentlich vorher passiert sein, bis Diederich so ein Junge wurde? Alles ist angelegt. Man ahnt schon, was daraus einmal werden kann – und fürchtet sich schon hier. Möchte man das eigentlich wissen? Und auch der Denunziant ist schon anerzogen. Den Arbeitern in der Werkstatt droht er, sie beim Principal, seinem Vater, zu verpetzen, und gleichzeitig umschmeichelte er sie. Die Hinweise, woher das kommen könnte, prasseln dicht auf dicht. Ist es die Mutter, die ihm das Kuschen und Täuschen vor dem handgreiflichen Vater beibringt?

„Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit zu schlechtem Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht hätte bestehen können.“

Man ahnt zumindest, was Heinrich Mann da versucht zu erfassen: Wie all diese von Tapferkeit und Selbstgerechtigkeit strahlenden Männer erzeugt wurden, die so furchteinflößend aussahen und einem drohten, obwohl sie eigentlich selbst verschreckte Häschen in strengem Vatermörder waren. Schon Diederichs Schulkameraden haben es bitter zu spüren bekommen: Eifrig hat er sie verpfiffen beim Lehrer. Und das in einem für ihn neuen Gefühl, denn erstmals stand er nicht allein in der Welt, sondern trat einer Gemeinschaft bei. Auf einmal ist er Teil eines „großen Ganzen“. Man lernt ganz schnell, wie so eine Gemeinschaft funktioniert – zumindest in den Köpfen derer, die hier erstmals so etwas wie eine Identität finden.

„Denn Diederich war so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, daß die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.“

Jahre später sollte Heinrich Mann sagen, dass ihm nur der Begriff für diesen speziellen Charakter fehlte. 1906 war der Faschismus halt noch nicht erfunden. Nur der Typus war schon da, dem diese Art „menschenverachtender Organismus“ so richtig gefallen würde.

Und schon auf Seite 11 wird Diederich zum „siegestrunkenen Unterdrücker”, als er sich am „einzigen Juden seiner Klasse“ vergreift.

Es ist ein ganz starkes Bild, das einem sehr eindringlich vorkommt, wenn man jetzt liest, wie die großen Gazetten nun wieder aufgeregt über den scheinbar stärker werdenden Antisemitismus schwadronieren, als wäre das eine Art Unart, Mode oder vorübergehende Erkrankung, und nicht das Ergebnis einer gesellschaftlichen Erziehung, in der nach wie vor lauter kleine Jungen so erzogen werden, dass sie sich die Anerkennung einer grölenden Menge dadurch erkaufen, dass sie den Schwächsten in der Gruppe schikanieren.

In Heinrich Manns Schilderung: „Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überwältigende Mehrheit drinnen und draußen. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Selbstbewußtsein, das kollektiv war!“

Und wer meint, jetzt übertreibt der Julke wieder, der stolpert schon auf der nächsten Seite über den Satz: „Übrigens genügte er bei zunehmender Schulpraxis in allen Fächern, ohne einmal das Maß des Geforderten zu überschreiten, oder auf der Welt irgendetwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam.“

Da wird wohl so mancher Lehrer das Gefühl haben, dass das irgendwie doch an das Schulverständnis von heute erinnert: das Pensum schaffen. Ohne das „Maß des Geforderten zu überschreiten“ einfach durchkommen. Und dann vom Vater (der 1866 und 1871 mit durchs Brandenburger Tor marschiert war) nach Berlin geschickt zu werden. Nicht mal das Studienfach Chemie hat er sich ausgesucht.

Vor der Großstadt fürchtet er sich regelrecht und muss schon allen Mut zusammennehmen, um dann endlich Vaters Handelspartner Göppel aufzusuchen. Eigentlich kommt dieser Diederich geistig aus dem irgendwo im Preußischen gelegenen Nest Netzig nicht heraus. Hier lernt er Agnes kennen, Göppels Tochter. Aber diese Beziehung ist eigentlich einen eigenen Text wert.

Denn eigentlich wird der ganze Welthorizont von Diederich schon deutlich, wenn er mit Agnes zusammen auf die Suche nach gemeinschaftlichen Verwandten in Netzig geht. „Und sie nötigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus.“

***

Pause. Innehalten. Es sind diese pointierten Sätze, an denen man merkt, mit welcher Bitterkeit Heinrich Mann auf seinen Helden und seine Welt schaut. Eine Welt wie Netzig, wo jeder jeden kennt und nichts so wichtig ist wie die bürgerliche Fassade.

Dabei handelt Mann Kindheit und Studium seines Helden geradezu im Affenzahn ab. Denn richtig aufblühen wird sein Held erst in Netzig, wo er eine Rolle spielen kann. In Berlin kann man froh sein, dass einem auch mal die Taschenuhr geklaut wird.

Aber das ist schon die Agnes-Geschichte. Zu der kommen wir im nächsten Part.

Das „Untertan-Projekt“.

 

Korrektur: In der ersten Variante des Beitrags haben wir tatsächlich in Netzig Vetternwirtschaft ausgemacht. Aber tatsächlich steht bei Heinrich Mann an dieser Stelle Vetternschaft.  Wir haben das korrigiert. Vielen Dank an Leser “Tim”, der uns schrieb:

“Da hat sich – zumindest meiner Version zu Folge – ein Fehler im letzten Auszug eingeschlichen. Es sollte sich wohl nur um Vetternschaft denn Vetternwirtschaft handeln.

Übrigens tolle Sache mit der Lektüreserie. Gern mehr davon. Könnte mir vorstellen, dass ‘Biedermann und die Brandstifter’ ganz gut für den Anschluss passen würde.”

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