Natürlich wusste ich, dass sich dieses Buch sträuben würde mit allen Vieren, wieder gelesen zu werden. Denn das Faszinierende an Diederich Heßling ist ja nicht seine nur zu leichte Einordnung als wilhelminischer Opportunist. Es ist die Tatsache, dass man frühzeitig sieht, dass er durchaus darunter leidet, wenn andere ihn erniedrigen. Aber er hat nie gelernt, sich zu wehren. Aus seiner Scham erwächst seine Rabiatheit. Und seine Unterwürfigkeit.

Und das Erstaunliche ist: Andere sehen das sofort. Der Erste, der das schamlos auszunutzen versteht, ist Mahlmann, eine Type, die Diedrich bei seinem Besuch bei den Göppels antrifft und den er zwangsläufig für den Verehrer von Agnes halten muss. Denn natürlich traut er sich nicht nachzufragen. Gerade weil das augenscheinlich die erste ernsthafte Begegnung mit so einem durchaus galanten Mädchen ist. Hat er überhaupt jemals zuvor mit Mädchen zu tun gehabt? An seinem Gymnasium jedenfalls nicht, da blieben die Knaben unter sich. Und schikanierten sich gegenseitig. Männerwelten eben. Aber mit Mahlmann begegnet Diederich einem, der es gelernt hat, mit Menschen zu spielen und ihre Schwächen auszunutzen. Wie er zum Dauergast bei den Göppels avancierte, wird so recht nicht klar.

Aber schon auf Seite 19 hat er Diederich durchschaut und bietet ihm einen faulen Deal an: „Wie gefällt ihnen denn die Göppel? Netter Käfer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurück, wenn Sie Wert darauf legen.“

Ein Prahlhans. Aber das Angebot ist auch ein Test. Immerhin hatte Mahlmann nicht übersehen, dass Agnes durchaus etwas findet an dem schüchternen Chemiestudenten, mit dem sie allein zu den Löwen geht. Auch wenn hinterher alle denken, es sei Wunder was passiert. Nichts ist passiert. Und Diederich wehrt ab, statt aufzubrausen. Tut geringschätzig. Wie wird er denn in Gefühle ausbrechen zur kleinen Göppel?

Das ist keine unverschämte Stelle, sondern der Punkt, an dem Leute wie Mahlmann sehen, wie weit sie gehen können: Ist dieser Diederich ein Kumpan? Hat er Rückgrat? Oder kann man ihn botmäßig machen. Was Mahlmann auch flugs darauf tut: „Etwas später, in der Leipziger Straße, bekam Diederich ohne Anlaß von Mahlmann eine mächtige Ohrfeige. Er sagte: ‚Au! Das ist aber doch eine …‘“

Mehr traut er sich nicht, denn die Unverfrorenheit, mit der Mahlmann agiert, überrumpelt ihn. Er lässt sich von ihm die Schulter klopfen und auch noch die letzten 10 Mark abknöpfen. Was für Diederich die nächsten vier Tage hungern bedeutet. Sein Vater hält ihn sichtlich knapp. Und Mahlmann macht sich beim nächsten Essen bei Göppel auch noch lustig darüber: Da hat wohl der Diederich sein ganzes Geld verlumpt. Da schämt sich Diederich natürlich vor Agnes. Seine ganzen Gefühle liegen wohlfeil auf dem Tisch, auch wenn er – stolz – alles abstreitet. Auch als ihn der alte Göppel vorm Besuch im Tierpark freundlich beiseite nimmt: „Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen!“

Und natürlich mischt sich die Gegenwart hinein beim Lesen. Ist unsere Zeit nicht voller Mahlmanns, die unverfroren auf Pump leben, anderen ihr letztes Geld abknöpfen und sich dann auch noch lustig machen über die Düpierten?

Und wie ist das mit den Betroffenen? Diesmal ist Diederich ja einer. Wie wirkt dann dieses freundliche Angebot des alten Göppel eigentlich auf ihn?

Diederich verzichtet da lieber auf den Tierparkbesuch und trinkt am Abend einsam sein Bier und betrauert sich selbst. Er wäre nur zu gern genauso wie dieser Mahlmann. In den Semesterferien ist er fast daran, das ungeliebte Studium hinzuschmeißen und nie wieder nach Berlin zu fahren. Aber dann stolpert er über seinen alten Schulkameraden Gottlieb Hornung, der nun auch in Berlin studieren würde. Nun meidet er zwar die Göppels und den aufdringlichen Mahlmann.

Aber mit Hornung geht es ihm eigentlich nicht anders, denn der schleppt ihn ins nächste Abenteuer, das sich Diederich nicht ausgesucht hat: zu den Neuteutonen. „Diederich verbarg seinen Schrecken unter der Maske der Geringschätzung, aber es half nichts.“ Hornung schleppte ihn mit und Diederich wurde Konkneipant. So gerät man in Fahrwasser, wenn man nicht gelernt hat, „Nein“ zu sagen. Aber wir wissen es ja vom Gymnasium: Diederich sehnt sich geradezu danach, endlich dazuzugehören. Und die nächsten Seiten sind ein durchaus bierseliger Annäherungstanz, bei dem Diederich eifrig mitsäuft.

Bis sie ihn endlich wahrnehmen und keilen, wie das damals hieß. Und ihn pauken ließen – was Fechten lernen hieß und sich dann, ordentlich vermummt, zum Fechten zu stellen. Bis ihm ein Hieb die Wange ritzte. Da hat er dann seinen Schmiss weg und wird zum Laufburschen für den Ältesten in der Runde, den Juristen Wiebel.

Hier ist schon fast alles beisammen: Diederich gehört dazu, kann sich was einbilden, kann mitsingen und mitsaufen. Und er kann aufschauen zu einem. Wiebel in dem Fall. Und wie das psychologisch funktioniert, beschreibt Heinrich Mann in ein paar kurzen Sätzen: „Diederich hatte das alles immer nur im unbedingten Gefühl des eigenen Unwertes mit angesehen. Seit aber Wiebel ihn anredete und sich sogar zu seinem Gönner machte, war es Diederich, als sei ihm erst jetzt das Recht aufs Dasein bestätigt. Er hatte Lust, dankbar zu wedeln. Sein Herz weitete sich vor glücklicher Bewunderung.“

So funktioniert das. Wir sehen ihn ja wedeln, auch wenn er nicht wedelt. Wir sehen seine tiefe Dankbarkeit, endlich eine Rolle zugewiesen bekommen zu haben und endlich nicht mehr herumlaufen zu müssen mit den nagenden Zweifeln am eigenen Wert. Jemand anders hat ihm einen gegeben. Jetzt hat er einen Herren.

Armer Hund.

Und dabei sind wir noch fast am Anfang.

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