Es gibt eine ganze Reihe Szenen in Diederich Heßlings Leben, die verursachen einem aus lauter Mitschämen regelrecht Gänsehaut. Und trotzdem versteht man ihn gerade in diesen Situationen am besten. Da darf man sich nicht von Heinrich Manns schelmischem Einstiegssatz „Diederich Heßling war ein weiches Kind ...“ täuschen lassen. Diederich Heßling war selbst als erwachsener Mann ein zutiefst verunsichertes Kind.

Hinter all seiner Rabiatheit und Gnadenlosigkeit wird immer wieder der Junge sichtbar, der um alles in der Welt um Anerkennung buhlt. Aber wie er sie bekommt, das hat er mit seinen Eltern nie gelernt. Nicht bei seinem Vater, der glaubte, regelmäßige Prügel seien das beste Mittel, dem Kind seine Zuneigung zu beweisen. Nicht von seiner Mutter, die den Jungen sogar versuchte zum Komplizen zu machen, weil sie selbst vor dem raunzigen Kerl zitterte. Zumindest eines hat Diederich da gelernt fürs Leben: Dass vor dem Stock jeder kuscht, dass Lärmen, Poltern und Züchtigungen die richtigen Mittel seien, um sich Respekt, „Liebe“ und Verehrung zu verschaffen.

Und dann kommt ihm wieder diese Agnes Göppel dazwischen, die er justament in dem Moment trifft, als er erstmals seinem Kaiser begegnet ist. Die Tumulte in der Berliner Innenstadt haben Agnes den Weg nach Hause abgeschnitten.

Erst erkennt er die Frau auf der Bank nicht, die ihm entgegenschaut. „,Gans‘, dachte er zornig. Da sah er, daß sie ein tief erschrockenes Gesicht hatte, und dann erkannte er Agnes Göppel.“

Wieder so ein Moment, wo man an die jähzornige Gegenwart denkt, in der sich so viele Menschen genötigt sehen, solche Beleidigungen nicht nur zu denken, sondern auf allen Kanälen herauszuplauzen. Als fehlte ihnen eine Bremse, so ein kleines Warnsignal, dass man mit anderen Menschen höflich und respektvoll umgehen sollte.

Dass es vielleicht ganz angebracht ist, sich erst einmal gedanklich in die Lage der anderen zu versetzen. Agnes kann das. Sie wäre nie im Leben darauf gekommen, dass man hungernde Arbeitslose, die friedlich protestieren, mit berittenen Polizisten von der Straße prügeln muss – so wie es Diederichs großes Vorbild, der Kaiser, angewiesen hat.

„,Die Leute hungern wohl‘, sagte Agnes schüchtern. ,Es sind ja auch Menschen.‘“

Es ist egal, welche Menschengruppe man hier einfügt: Flüchtlinge, Hartz-IV-Empfänger, Kurden, Alleinerziehende und so weiter. „Es sind ja auch nur Menschen.“

Der Satz bezeichnet die Grenze zu etwas, was man heute wissenschaftlich „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ nennt. Menschenfeinde sprechen anderen Menschen ihre Gleichwertigkeit als Mensch ab. Und jetzt merkt man, was Diederich in den drei Jahren, die er sich von Agnes und Familie Göppel ferngehalten hat, gelernt hat in seiner Neuteutonia und unter den Leuten, mit denen er ein „Großes Ganzes“ sein durfte. Denn solche Gruppen formen Ansichten. Und Diederich war formbar, wollte geformt werden. Endlich dazugehören.

Das Ergebnis?

„,Menschen?‘ Diederich rollte die Augen. ‚Der innere Feind sind sie.‘“

So wird aus einer Abwertung auch gleich die verbale Grundlage dafür, mit Prügel – und heute auch gern mal Tränengas – gegen die Verachteten vorzugehen.

Ich hab’s ja gesagt. Dieses Buch ist widerspenstig. Man möchte Agnes schnappen und mit ihr aus der Szene gehen. Ganz unübersehbar sieht sie in diesem Diederich etwas anderes, als er ist. Aber sie entkommt ihm nicht. Oder besser: Sie will ihm nicht entkommen. Denn auf den nächsten Seiten übernimmt sie die Regie und sorgt dafür, dass Diederich wieder zurückkehrt an den Tisch der Göppels. Und sie ist es auch, die ihn in seiner Junggesellenbude verführt. Und Diederich kann sich nicht wehren, weil es zum Glück auch im wütendsten Kaiserverehrer Hormone gibt und Gefühle, gegen die er nicht ankommt. Sie zog ihn hin und er ließ es sich wonniglich gefallen.

Auch wenn das stellenweise herrlichster Junger-Mädchen-Ton aus wilhelminischen Damenromanen ist: „Du mußt nicht denken, daß ich etwas von dir verlange. Ich habe dich geliebt, nun ist alles gleich.“

Das ist kein feines Porzellan. Sie weiß schon, wie sie den gut erzogenen Bürger in ihm kitzeln kann. Auch wenn er nicht antwortet. Da braucht er schon ein Weilchen, um sich in seiner Beunruhigung zu wälzen. Denn eigentlich sind ihm so viele Gefühle und so viel Weiblichkeit suspekt. Eigentlich möchte er sie doch möglichst bald wieder loswerden. Trotz oder gerade wegen aller Gefühle.

Aber ihm fällt dann doch nichts anderes ein, als von seinen Verpflichtungen Agnes gegenüber zu stammeln.

Denn das ist auch klar: So selbstlos hat ihn bis hierher wirklich niemand geliebt. Und er traut sich einmal nicht zu poltern. Das kommt erst hernach wieder, wenn wir wissen, wie verlegen ihn die ganze Liebe macht.

Agnes aber behält kühlen Kopf. Auch hier: „Es wäre schön, wenn ich später einmal deine Frau werden könnte.“

Aber das meint Diederich natürlich nicht, wenn er hinterher denkt: „So ein Weib ist scheußlich raffiniert. Lange tu ich da nicht mit.“

Es ist nun einmal so. Mütter prägen das Verhältnis ihrer Söhne zu Frauen. Und von seiner Mutter hat Diederich gelernt, dass Frauen nur die Raffinesse bleibt, wenn sie unter strengen Patriarchen ihren Willen durchsetzen wollen. Und so schwankt er hin und her zwischen romantischem Gestammel und grobianischer Verdächtigung. Diese Weiber!

Wobei wir wenig später erfahren, wie sehr Agnes vom geradezu fatalistischen Bild unbedingter Liebe ihrer Zeit besessen ist. Wir dürfen ja nicht vergessen: Wir schreiben das Jahr 1892. Die Dichter schreiben blutschwere Dramen und Gedichte, in denen es fast immer tragisch ausgeht und die Liebenden gemeinsam sterben – meist aus einem grunzdämlichen Missverständnis wie bei Shakespeare oder – ach ja – weil es die gestrenge Welt nicht wollte.

Julia trifft auf – nein, ganz bestimmt nicht Romeo. Eher Gunther oder Hagen. Selbst am Kaffeetisch bei Göppels spielt Diederich seine Rolle vom strammen Getreuen des Kaisers, der von hartem Durchgreifen überzeugt ist.

Warum eigentlich, darf man sich fragen? War das nicht die „gute alte Zeit“? Deutschland im Wirtschaftsaufschwung, gerade dabei, zu den großen Industrienationen aufzusteigen?

Aber da klatscht es einem kalt ins Gesicht: „,In dieser harten Zeit‘, fügt Diederich hinzu, ,muß jeder seinen Mann stehen.‘ Und setzt sich in Positur vor Agnes, die ihn bewunderte.“

Der alte Göppel aber ist das, was die heutigen Menschenfeinde einen Gutmenschen nennen. „,Wieso, harte Zeit?‘ sagte Herrr Göppel. ‚Sie ist doch nur hart, wenn wir uns gegenseitig das Leben schwermachen.‘“ Ein vernünftiger Satz. Aber wie viel Vernunft dringt eigentlich noch durch, wenn sich menschenfeindliche Ideen in die Köpfe schleichen? Nur dass es damals wirklich die Denkweise der Junker war und all der kleinen Bürger, die nach 1871 ihren Nationalstolz entdeckten und auch dadurch dazuzugehören versuchten, dass sie die Sichtweisen der Machtelite übernahmen.

Der Assessor von Barnim, den Diederich so gern zitiert, ist ein typischer Vertreter des preußischen Beamtenapparates. Davon werden uns noch einige Vertreter begegnen. Und von Diederich wissen wir, dass er so gern dazugehören möchte. Nur manchmal scheint er zu stutzen, wird eine leichte Verunsicherung sichtbar. Aber dann knallt er die Hacken zusammen, setzt sich in Pose und verkündet die Sprüche anderer Leute mit festester Überzeugung.

Und merkt nicht mal, wie Herr Göppel vor Pein errötet ist und ihm die Zigarre aus lauter Verlegenheit anbietet. Da gibt sich Diederich wieder besänftigt

Nur: Mit Frauen kann er nicht umgehen. Als ihm Agnes mit dem Bild unbedingter Liebe und Opferbereitschaft kommt, schmilzt er hin und ist völlig ratlos. Das wird ihm zu viel. Man sieht Agnes kämpfen – doch Diederich sieht sich genötigt. Und überfordert. „Eine Geliebte, die ihn an seiner Karriere hindern wolle, könne er überhaupt nicht gebrauchen.“

Na, ist das nicht eine herrlich faule Ausrede? Und die denkt er sich nicht: Die sagt er Agnes ins Gesicht. Was man wohl in manchen Kreisen „charakterfest“ nennen würde. Wie kann man denn seine Karriere der Verliebtheit opfern? Kreisen darum nicht alle bürgerlichen Liebesromane? Aber Diederich ist nicht Romeo. „Warum Karriere machen und dich abhetzen“, fragt Agnes. Also lässt er sich noch einmal betören. Und hinterher bestraft er sie, lässt sie warten und schützt wichtigere Termine vor. „Nun ließ er sie warten, halb mit Absicht.“

Diese Lust am Bestrafen – wir wissen ja, woher er die hat.

Und es erstaunt nur immer wieder, dass es auch immer Frauen gibt, die sich das gefallen lassen von Männern. Männern, die grob werden, wenn sie sich ertappt fühlen. Denn Gefühle zu zeigen, haben sie nicht gelernt. Das ist das Unberechenbare, gegen das nur Ordnung, Zucht und Sicherheit helfen.

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