Die Netziger geben sich tatsächlich alle Mühe, diesen aus dem Ruder laufenden Diederich Heßling zu integrieren. Major Kunze hat es ihm ja schon mit barschen Worten beibringen wollen. Pastor Zillich predigt es von der Kanzel: „Liebet euren Nächsten wie euch selbst!“ Und Diederich versinkt vor Scham in seiner Kirchenbank. Kein Mensch kann ihn zwingen, den anerkannten Fabrikanten Lauer als Zeuge zu belasten. Netzig ist ein kleines Modell für eine ganze große Gesellschaft. Fürchten Sie sich vor Leuten mit „Prinzipien“!

Hier in dieser kleinen Stadt kennen sich alle und alle sind mehr oder weniger voneinander abhängig. Es ist höchst unklug, es sich mit dem einzigen Doktor im Ort zu verscherzen oder sich bei seinen Geschäften wie ein Elefant im Porzellanladen zu benehmen, wenn dieselben Leute, die man öffentlich brüskiert, sogar die eigenen Geschäftspartner sind. Das kann niemand trennen.

Sogar vom Untersuchungsrichter wird Diederich angesprochen, bevor er wirklich vorgeladen wird. Und Fritzsche wird dafür, dass er als Untersuchungsrichter unparteiisch zu sein hat, sehr deutlich, als er mit Diederich spricht, der ja nun sichtlich wahrnehmbar für ganz Netzig einsam ist. Auch seine Saufkumpane aus der ersten Nacht wollen sich mit ihm nicht mehr blicken lassen. Und indirekt deutet Fritzsche an, wie sehr ihm der Fall an die Leber geht – am liebsten würde er ihn niederlegen, denn mit der Familie Lauer ist er eng befreundet.

Aber schon da kommt ihm Diederich wieder mit seinem Großgetue: „Aber ich bleibe mir bewußt, daß ich für alles meinem Gott Rechenschaft schulde.“

Kleine Verschnaufpause und dann so ein Satz, der Fritzsche signalisiert, dass Diederich vielleicht doch begriffen hat, was er alles kaputtmacht, wenn er vor Gericht den Prinzipienreiter spielt: „Auch ich bin der Reue zugänglich.“

Am nächsten Tag reitet er mit seiner Zeugenaussage vor Untersuchungsrichter Fritzsche den Fabrikanten Lauer erst so richtig rein.

Und Netzig reagiert sofort. Die wichtigsten Geschäftspartner stornieren ihre Aufträge und wechseln zur Konkurrenz.

Wer in unseren heutigen Zeiten ein kleines Unternehmen hat weiß, was das heißt. Gerade dann, wenn das kleine Unternehmen – so wie die Papierfabrik von Diederichs Vater – sich ihren Aufschwung dadurch erarbeitet hat, dass Herr Heßling mühsam jeden einzelnen Geschäftskontakt aufgebaut hat. Das war wohl sein elementarer Fehler: Statt den „weichen Jungen“ in seine Art der Geschäftsführung einzuführen und ihm alles zu erklären, hat er ihn lieber verdroschen.

Und nun ist Diederich dabei, mit knallharten Methoden, wie man sie aus modernen, neoliberalen Zeiten kennt, gründlich zu demolieren, was sein Vater mit Sötbier aufgebaut hat. Die neue, teure Maschine, die er gegen den Rat Sötbiers bestellt hat, kann er gar nicht bezahlen. Und schon vor Weihnachten deutet sich an, dass er ein Drittel der Belegschaft feuern muss, wenn er nur die erste Rate bezahlen will. Was er aber nicht will.

Einem einsamen und verzweifelten Weihnachten, an dem Diederich seine ganze Selbstbemitleidung in die Tasten heult und seine Mutter ganz allein „mit zitternder Stimme“ die „Stille Nacht“ singt, folgt sein verzweifelter Versuch, den teuren Holländer wegen Reklamation unbezahlt an den Hersteller zurücksenden zu lassen. Dafür geht er sogar eine geradezu schäbige Allianz mit Napoleon Fischer ein, dem Maschinenmeister und Sozi, den er am ersten Tag gleich mal feuern wollte. Er drückt ihm sogar Geld in die Hand und will seinen Lohn erhöhen.

Nichts an Diederichs Handeln ist irgendwo begründet. Er hat keine Ahnung. Und gerade in diesen Szenen wirkt er wie einer dieser Sanierer aus den 1990er Jahren, die Kraft ihres BWL-Studiums die übernommenen Betriebe im sibirischen Osten in Nullkommanichts ins Nirwana saniert haben. Diederich hat die ehrwürdige Papierfabrik seines Vaters so schnell in die Nähe des Bankrotts geführt, dass man sich verwundert fragt: Woher nimmt er diese Überheblichkeit? Er hat doch in Berlin nur Chemie studiert und nie auch nur eine Lehrzeit in Geschäftsführung hinter sich gebracht?

Und jetzt weiß er alles besser als die Leute, die hier die ganze Zeit mühsam ein kleines, stabiles Unternehmen aufgebaut haben.

Binnen weniger Tage hat er alle seine „besten Kumpel“ in Netzig verloren, hält zum zwielichtigen Jadassohn lieber Abstand. Und dann schneit noch ein Herr Friedrich Kienast in sein mühsam gespieltes Familienleben. Er ist Vertreter der renommierten Firma Büschli & Cie., der Diederich kraft seiner Wassersuppe in einem Schreiben schon mal die Klage vor Gericht angedroht hat. Doch statt kleinmütig beizugeben hat Büschli & Cie. den Herrn Kienast geschickt, der soll sich die Maschine mal begucken.

Und es kommt, wie man es befürchtet hat. Nein, man kommt aus dem Schüttelfrost, den einen dieser Diederich Heßling bereitet, nicht heraus. Der einen so fatal an einen amerikanischen Präsidenten erinnert. Nur steht Diederich kein Staatsapparat zur Verfügung und jede seiner Aufschneidereien, Lügen und Besserwissereien fliegt auf. Auch die Trickserei mit der Maschine, die ohne künstlich verstopfte Ventile die volle Leistung bringt.

Was denkt eigentlich Napoleon Fischer über diesen Chef, der ihn einmal feuern will und beim nächsten Mal mit 50 Mark besticht?

Na gut: Wilde Jungunternehmer, die ihr Unternehmen genauso schnell in die Pleite regiert haben, wie es hier Diederich versucht, hat auch Leipzig in einer erklecklichen Zahl erlebt. Aber die wenigsten haben so mit ihrem unternehmerischen Können geprahlt und sind herumgerannt, als wären sie tatsächlich vom harten Geschäft gebeutelte Unternehmer, obwohl sie die meiste Zeit nur im Ratskeller verbracht haben. Und Leipzig ist ja eine große Stadt, die so einiges verträgt. Aber in Netzig ist das eigentlich der Untergang. Wer will mit so einem Kerl, der einen hintenrum gleich mal bei der Justiz anschwärzt, überhaupt noch was zu tun haben?

Da wirkt dieser Kienast geradezu erfrischend. Er lässt sich von diesen radikalen Stimmungswechseln gar nicht erst beeindrucken. Nicht mal davon, dass Diederich sich jetzt gar als Reserveoffizier tituliert – was er eindeutig nicht ist. Ein Aufschneider vor dem Herrn. Eben gerade hat er schon wieder versucht, Kienast eine beleidigende Äußerung zu unterstellen.

„Übrigens mache ich, als Reserveoffizier, Sie auf die Folgen Ihrer Äußerung aufmerksam!“

„Lassen Sie das nur, Herr Doktor“, sagte Kienast kühl. „In Geschäften bin ich nüchtern, das habe ich Ihnen schon beim Frühstück gesagt.“

Beim Frühstück hatte er schon mal mit Diederichs Schwester Magda geäugelt. Eine mögliche erfolgreiche Heirat in Netzig hat Diederich seinen Schwestern ja gerade gründlich versaut. Und siehe da: Sie ergreifen selbst die Initiative. Und Magda hat sich keinen Dummen ausgeguckt. Sogar einen, der weiß, wie er den eigentlich völlig überforderten Bruder zu nehmen hat. Als er von Magda eine Einladung zum Essen bekommt, sagt er es direkt vor dem innerlich kochenden Diederich: „Weiß ich denn, ob Ihr Herr Bruder …“

Mit Anspielungen kennt er sich auch aus. Und seine sind besser als die plumpen Duell-Versuche aus der Neuteutonia.

Was zumindest festzuhalten wäre: Das krachlederne Korsett, das sich Diederich in der saufenden Burschenschaft zugelegt hat, hat ihm nicht die Bohne Rückgrat und Selbstbewusstsein gegeben. Die ganze Zeit versucht er eine Macher-Fassade aufrechtzuerhalten, redet wie der Kaiser – und brodelt innerlich eigentlich die ganze Zeit in lauter Scham, weil er wirklich alles gründlich vermasselt. Aber er lässt nicht ab davon.

Das kann ja noch heiter werden. Oder schrecklich.

Das „Untertan-Projekt“.

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