Dass der einstige Leipziger SPD-Stadtrat Roland Mey seine ganz besondere Sicht auf den viel gefeierten einstigen Gewandhauskapellmeister Kurt Masur hat, haben wir ja an dieser Stelle mehrfach berichtet. Manch Medium hat Kurt Masur ja geradezu zum Bürgerrechtler gemacht. Doch für Mey, der auch fürs Leipziger Bürgerkomitee aktiv war, ist Masur eine zerrissene Gestalt. Seine Streitschrift „Kurt Masur entzaubert“ wird immer dicker.

Mal ertappt er den viel Gefeierten als Ehrenwächter ausgerechnet am aufgebahrten Sarg des einstigen SED-Bezirksparteichefs Paul Fröhlich, der die treibende Kraft unter anderem hinter der Sprengung der Universitätskirche St. Pauli war. Dann wieder mit einer Schallplattenaufnahme für eine Solidaritäts-LP für Vietnam. Titel „Solidarität – jetzt erst recht!“

Als Kurt Masur 2015 starb – mehrfach auch mit Orden und Ehrungen als Stellvertreter für die Leipziger Friedliche Revolution geehrt – brachte der Beitrag in der LVZ dazu den einstigen SPD-Stadtrat regelrecht auf die Palme.

„Die Leipziger Volkszeitung (LVZ) betitelt am 21.12.15, zwei Tage nach dem Tod des Maestros, den Leitartikel ‚Humanistischer Imperativ‘ und schrieb, dass Masur sich ‚nichts und niemandem unterordnete‘. Wenn ein Mensch unter totaler Wegdefinition seiner Fehler und Schwächen über zwei Jahrzehnte hinweg (insbesondere von den Leipziger Medien) derartig zu einem göttlich unantastbaren Wesen aufgebaut wird, dann ist das mehr als nur unseriöse Berichterstattung.“

Was ihn so ärgert ist diese Lobpreisung für einen Mann, der durchaus auch mutige Momente hatte – so wie am 9. Oktober 1989, als er das Manifest der Sechs mit unterschrieb und für den Leipziger Hörfunk einlas. Als Gewandhauskapellmeister war er bekannt, die Leipziger wussten seine Stimme durchaus einzuordnen. Doch er war kein Dissident. Das war er nie.

Er gehörte zu den geachteten Persönlichkeiten des Leipziger Kulturlebens und genoss damit natürlich mehr Achtung als zum Beispiel die drei SED-Genossen, die den Mut hatten, den Aufruf mit zu unterzeichnen. Allzu viele bekannte Leipziger, die der Initiator des Aufrufs – der Kabarettist Bernd-Lutz Lange – anrufen konnte, um sie zu bitten dabei mitzumachen, gab es damals nicht.

Mey wählt für diesen Moment die Bezeichnungen „Revolutionär ad hoc“ (auch die gab es) und „virtueller Bürgerrechtler“. Auch die gibt es.

Gerade aber weil Masur von einigen Medien regelrecht zum Helden stilisiert wurde, wird Mey nicht müde, das Bild infrage zu stellen, das nach 2015 auch noch durch sein pompöses Grabmal auf dem Südfriedhof, die Gründung des Kurt-Masur-Instituts und die Benennung eines Platzes und einer Schule erzeugt wurde. Als wäre der einstige Ehrenbürger so eine Art Heiliger.

Aber das war er nicht. Masurs Leben war eine Gratwanderung – über lange Strecken sehr staatsnah, was ihm oft erst den nötigen Einfluss verschaffte, all die Dinge zu initiieren, die die Leipziger so beeindruckten. So wie den Bau des neuen Gewandhauses an Stelle der ursprünglich geplanten langweiligen Stadthalle an gleicher Stelle.

Und am Ende stand Masur auch für die Legitimation der alten SED-Herrschaft, der es immer schwerer fiel, mit namhaften Kandidaten selbst bei Wahlen auch nur den Anschein einer gewissen Akzeptanz beim Wahlvolk zu erreichen. Nun kann Mey ein neues Kapitel zu seiner etwas anderen Masur-Biografie hinzufügen. Denn er hat herausgefunden, dass Kurt Masur auch bei der legendären Kommunalwahl am 7. Mai 1989 auf dem Wahlzettel stand, jener Wahl, die letztlich zum Beginn vom Ende der DDR wurde.

Denn landesweit nahmen zahlreiche Bürgerrechtler an den Auszählungen der Wahlzettel teil. Am Abend verkündete zwar Egon Krenz anfangs das übliche 99-prozentige Wahlergebnis für die Liste der Nationen Front. Aber schon die Abendausgabe der „Aktuellen Kamera“ schwächte die Zahl dann auf 98,5 Prozent ab, eine Zahl, von der alle wussten, dass auch sie nicht stimmte.

Nach den Schätzungen der Wahlbeobachter waren bis zu 25 Prozent der Wahlberechtigten gar nicht zur Wahl gegangen. Und bis zu 15 Prozent hatten gegen die Liste gestimmt.

Was gar nicht so einfach war, denn wie man die Einheitsliste auf dem Wahlzettel ungültig machen konnte, das verbreitete sich nur von Mund zu Mund. Das war nicht offiziell. Das Ausstreichen einzelner Namen genügte nicht. Roland Mey: „Man musste jeden einzelnen Namen durchstreichen. Und zwar mit Lineal. Nur dann galt die Stimme als Gegenstimme.“

Wer den Zettel – wie bis dahin üblich – einfach nur faltete und so in die Wahlurne steckte, bestätigte die vorab ausgekungelte Gemeinschaftsliste, auf der die Kandidaten der SED in schönster Innigkeit mit denen der Blockflötenparteien und der Massenverbände standen. Wer und wie man die Liste zusammenstellte, erfuhren die Bürger nicht. Da und dort soll es sogar öffentliche Vorstellungen der Kandidaten gegeben haben – aber das änderte nichts an ihrer Platzierung auf dem Wahlzettel, der auch nicht verriet, für wen der Kandidat da eigentlich stand.

Nur dass Meys Suche nach dem Kandidaten Kurt Masur beinah ins Leere gelaufen wäre. Ein Anruf bei der LVZ, die ja bekanntlich 1989 noch das „Organ der Bezirksleitung der SED“ gewesen war und damals brav alles abdruckte, wie es die Staats- und Parteileitung vorgab, verlief im Nichts. Man fand dort in den alten Zeitungen keinen Stadtratskandidaten Kurt Masur.

Kurz zuvor hatte Mey erst seinen Forschungsauftrag bei der Stasi-Unterlagenbehörde ausgelöst. Dort hoffte er noch mehr zum Kommunalwahlkandidaten Kurt Masur zu finden und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: „Warum hat sich so ein berühmter Mann eigentlich noch für so einen Akt des Gehorsams bereitgefunden? Warum hat er das gemacht?“

Mit Meys Worten: „Die dargestellten Beispiele der Verbundenheit mit der SED waren keine singulären Verfehlungen eines (jungen) Aufstrebenden und ansonsten demokratisch (vorsichtig) Andershandelnden. Noch fünf Monate vor seiner allgemein bekannten Rede im Leipziger Stadtfunk vom 9. Oktober 1989 und sieben Monate vor seinem Weihnachts- und Neujahrsbrief an die Leipziger (vom Dezember 1989) hat Masur am 7. Mai 1989 zur Kommunalwahl für die Leipziger Stadtverordnetenversammlung kandidiert.

Er stand der SED folglich noch kurz vor dem Zusammenbruch der DDR zur demokratischen Tarnung der Diktatur zur Verfügung. In der DDR wurden die Parlamente ‚Abstimmungsmaschinen‘, die Abgeordneten ‚Stimmvieh‘ und der Wahlvorgang ‚Zettel falten‘ genannt; eine hochgefährliche Wahrheit und deshalb nur unter sicheren Vertrauten so formuliert. Das Ankreuzen von Parteien oder Kandidaten war bei Wahlen nicht vorgesehen, was durch die Formulierung ‚Kandidaten der Nationalen Front‘ fundamentiert wurde.“

Während man also im LVZ-Archiv nichts zu finden meinte, bekam Mey dann einen Anruf aus dem BStU-Archiv. Da lag zwar keine dicke Akte zum Wahlkandidaten Kurt Masur. Aber dort hatte man akribisch auch so einiges zum nichtkonformen Wahlverhalten der Leipziger gesammelt. Martin Jankowski berichtet darüber, dass man noch kurz vor der Wahl rund 2.000 Leipzigern, von denen man wusste, dass sie dem Staat kritisch gegenüberstanden, die Ausreise in die BRD genehmigt hatte.

Aber der Dissens war längst allgemein. Und davon erzählen wohl auch einige der von der Stasi gesammelten Wahlzettel. So auch einer für den Wahlkreis 93. Vermutlich Leutzsch, wo Kurt Masur damals lebte. Ein kleiner Wahlkreis mit nur drei Kandidaten und einer Kandidatin. Ein Wähler hat hier mit schönster Schreibschrift „Gegenstimme“ neben die vier Namen geschrieben. Und an oberster Stelle steht Kurt Masur, der also doch noch im Mai für die Leipziger Stadtverordnetenversammlung kandidierte. Und natürlich gewählt wurde. Wer auf dem Zettel stand, wurde gewählt.

Für Mey unvorstellbar, dass der große Maestro dann tatsächlich an diesen Akklamationsveranstaltungen im Rathaus teilgenommen hätte. Als bekannter Dirigent hatte er viel mehr Einfluss als der gesamte vorsortierte Stadtrat von Leipzig, der ja dann im Januar 1990 tatsächlich seine eigene Auflösung beschloss.

Das Problem, das Roland Mey hier sieht, ist die Tatsache, dass Männer wie Kurt Masur durch ihre Berühmtheit die SED-Herrschaft legitimierten, ihr einen weltoffenen kulturellen Anstrich verpassten. Auch 1989 noch, kurz bevor das Volk dann seine Regierung per Demonstrationsbewegung in den Ruhestand schickte.

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