Auch Revolutionen verwandeln sich im Lauf der Zeit in einen Mythos. Sie werden ausgeschlachtet, umgedeutet, angeeignet. Mit der Friedlichen Revolution war das im Wahljahr 2019 unübersehbar. Aber auch schon in den Jahren davor, als sich ein Häuflein „besorgter Bürger“ Montag für Montag anschickte, „Wir sind das Volk“ zu brüllen. Eine Anmaßung? Oder nur pure Unkenntnis über den Ursprung des Rufs? Das Archiv Bürgerbewegung startet jetzt eine Online-Präsentation, die der Mythenbildung zu Leibe rückt.

Das Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V. macht dabei auch sehr deutlich, worum es bei diesem Projekt geht.

„Bis in die Gegenwart hinein nehmen soziale und politische Bewegungen in Ost- und Westdeutschland Bezug auf das Narrativ der Montagsdemonstrationen 1989 in Leipzig. Sie erhoffen sich dadurch eine stärkere Mobilisierung. Der Bezug bekräftigt außerdem die Aussicht auf einen Erfolg. Schließlich gelang es schon einmal, unter diesem ,Label‘ politische Veränderungen durchzusetzen. Im Zusammenhang damit steht die Beschwörung eines emotional verankerten ,WIR‘-Gefühls durch den Ruf ,Wir sind das Volk‘. Dieser Slogan, dessen Aussage sich erstmals am 2. Oktober 1989 an die martialisch auftretende Polizei richtete, verkümmerte im Laufe der Zeit in seiner Intention immer mehr zum ,Ich habe recht‘.

Die historischen Ereignisse haben sich mittlerweile in idealisierter Form in unserem Gedächtnis verankert. Es fehlt jegliche Differenzierung und es stellt sich die Frage, welche der vielen sehr unterschiedlichen Demonstrationen und welches dazugehörige ,Volk‘ eigentlich gemeint sind, wenn wir an die Montagsdemonstrationen erinnern.

In einem ersten, jetzt veröffentlichten Schritt geht die Darstellung dem historischen Kern des Mythos’ nach. Die Leipziger Montagsdemonstrationen waren untrennbar mit den seit 1982 stattfindenden Friedensgebeten in der Nikolaikirche verbunden. In übersichtlicher Form schlägt die Darstellung den Bogen von den historischen Hintergründen und den Rahmenbedingungen über die ersten Friedensgebete, die Konflikte mit der Amtskirche, die Wir-wollen-raus-Bewegung bis zu verschiedenen Protestformen, die sich aus den montäglichen Treffen ergeben hatten.

Die handgreifliche Auseinandersetzung mit der Staatsmacht gehörte demnach weit vor dem Herbst 1989 zum wöchentlichen Alltag. Den Abschluss dieses Abschnittes bildet das dramatische Geschehen im Herbst 1989 bis zur Entscheidung am 9. Oktober. Die Ereignisse werden dabei auch anhand bisher unveröffentlichter Tondokumente illustriert.

Bis Oktober 2020 sollen Stationen der Mythenbildung folgen. Sie reichen bis zu den rassistischen Pegida-Auftritten in Dresden und ihren bundesweiten Ablegern. Dreizehn monatliche Kolumnen begleiten die Entstehung dieser Präsentation. Darin reflektieren Autorinnen und Autoren deutschlandweiter Lesebühnen den Umgang mit unserer Geschichte auf ihre Weise. Den Anfang macht im Oktober 2019 Wladimir Kaminer.

Ab Sommer 2020 wird ein sogenannter ,VOLK-er-Mat‘ die inflationäre Selbstermächtigung, man sei ja das ,Volk‘ und erhebe dadurch Anspruch auf die Meinungshoheit, persiflieren. In Anlehnung an einen ,Wahl-O-Mat‘ können die Nutzer hier erfahren, an welcher der vielen unterschiedlichen Montagsdemonstrationen sie potentiell teilgenommen hätten und zu welchem ,Volk‘ sie dementsprechend gehören. Die Revolution ist unser Erbe – es lebe der Mythos.“

David gegen Goliath: Bernd-Lutz und Sascha Lange erzählen den 9. Oktober 1989 in völlig neuer Detailschärfe

David gegen Goliath: Bernd-Lutz und Sascha Lange erzählen den 9. Oktober 1989 in völlig neuer Detailschärfe

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