Das Ambiente passt, wenn sie am 12. Juni auf die Bühne kommen, die neun Herren in ihren edlen Anzügen. Oder schlüpfen sie dann konsequent in Biedermeierfräcke? Man darf sich überraschen lassen. Wie so oft, wenn sich die A-cappella-Sänger von amarcord etwas haben einfallen lassen. Nur dass sie diesmal nicht a cappella kommen, sondern in Gesellschaft einer echten Waldhorn-Kapelle: german hornsound.

Denn für das Liedmaterial, das sie jetzt präsentieren, haben sie sich einmal nicht in den Tiefen des 16., 17., 18. Jahrhunderts umgetan – obwohl auch das schon jedes Mal für ihre Zuhörer eine Entdeckung war. Die fünf stimmgewaltigen Herren haben wie kein anderes Ensemble gezeigt, zu was ehemalige Thomaner fähig  sind, wenn sie das Gelernte nicht nur auf die herausfordernden und herrlichen Kompositionen Johann Sebastian Bachs anwenden.

Aber die Auswahl jetzt überrascht schon, weil sie damit ein Feld betreten, das auch in der Pflege der romantischen Musik meistens eher gemieden wird. Was nicht an den dort zu findenden Kompositionen liegt, sondern an der Gespaltenheit des deutschen Kulturmenschen, der zwischen der hohen, der zumeist als klassisch anerkannten Musik und der niederen, der schrecklich populären, meist nicht nur Grenzen zieht, sondern regelrechte Minenfelder legt. Das eine soll mit dem anderen nichts zu tun haben.

Aber für die großen Komponisten des 19. Jahrhunderts gab es diese Grenze noch gar nicht. Die haben sich erst gegen Ende des Jahrhunderts ein paar überkandidelte Feuilletonisten ausgedacht – aber damit die Wahrnehmung von Musik massiv beeinflusst. Deswegen ist auch eine Kultur fast verschwunden im 20. Jahrhundert: die der (Laien-)Männerchöre, die eben nicht nur Volkslieder schmetterten, sondern sich auch an anspruchsvolle Kompositionen wagten. Und für die die besten Komponisten der Zeit ganz bewusst auch eigene, zumeist vielstimmige Lieder schrieben.

Und da sind wir jetzt mitten im Biedermeier – auch das ja so eine abwertende Vokabel, die sich (natürlich) ein paar völlig abgehobene Kolumnisten ausdachten, um eine ganze Kulturepoche in Deutschland nicht nur zu bezeichnen, sondern abzuwerten. Denn natürlich war Biedermeier keine Selbstbezeichnung jener Jahre zwischen Karlsbader Beschlüssen und 1848er Revolution. In der Malerei, der Musik und der Literatur dominierte die Romantik in all ihren Spielarten. Und „beschauliche Ruhe“ herrschte nur auf den netten Kupferstichen aus dieser Zeit. Ansonsten glühte der politische „Vormärz“. Aber wer bei Google in das schöne Suchmaschinchen Ngram schaut: Um 1900 mussten ein paar Leute diese Epoche unbedingt in eine biedere Schublade schieben. Und da steckt sie bis heute.

Auch wenn man es am Schladitzer See am Biedermeierstrand eher von der humorvollen Seite nimmt. Und von der romantischen. Denn jeder Fernsehfilm über die Schumanns, über Mendelssohn Bartholdy, den späten Goethe oder den frühen Wagner zeigt natürlich: Die liefen tatsächlich in diesen herrlichen Kostümen herum. Und sie sangen. Die Leipziger Singakademie hat in dieser Zeit ihren Ursprung.

Und da es die Söhne und Töchter des nicht ganz so armen Bürgertums waren, die hier gemeinsam sangen, thematisieren die Kompositionen für diese Chöre natürlich auch ihr (neues) Lebensgefühl. Denn dieser Vormärz steht kulturell auch für ein erwachendes Selbstbewusstsein des werdenden Bürgertums (richtig reich und konservativ wurde es ja erst viel später in der Gründerzeit). Und zu diesen Aneignungen gehörte natürlich auch der Versuch, das Leben des Adels zu adaptieren – nicht nur in prächtigen Villen, die wie Schlösschen aussehen durften, in prächtigen Sammlungen oder Bildungsreisen (am liebsten nach Italien), sondern auch in der Eroberung eines ganz eigenen Metiers: des Waldes und der Jagd.

Und so überrascht es nicht, dass sich hochkarätige Musiker wie Robert Schumann, Franz Schubert oder Ferdinand Hummel der Komposition neuer Wald- und Jagdlieder widmeten, ein Genre, das aus der Hofmusik der Adelshöfe nicht ganz unvertraut war. Doch die bürgerlichen Jagdgesellschaften waren keine so prächtigen, kostümierten Ereignisse. Sie waren eher bescheiden. Man eignete sich die einst feudale Jagd regelrecht mit aufgeregtem Herzen an – mal ganz zu schweigen davon, dass das auch die Zeit war, als die Romantik den Wald als eindrucksvolle Kulisse für sich entdeckte, diesen imposanten Wald, der noch vor wenigen Generationen ganz und gar den Fürsten gehörte.

Und jetzt brach man selbst mit Hund und Gewehr in aller Frühe auf, pirschte sich an und jagte das – edle – Wild. Und natürlich eignet sich kein Instrument besser dazu, der Faszination von Jagd und Wald einen Klang zu geben, als das Waldhorn. Auch bei Wagner taucht es ja bekanntlich auf. Und deshalb stehen die fünf Sänger von amarcord diesmal nicht allein auf der Bühne, sondern haben sich mit german hornsound zusammengetan, einer Gruppe ehemaliger Studenten der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart, die im Berufsleben festbestallte Hornisten in diversen namhaften Orchestern sind, als Ensemble aber ihrer Freude am Hornblasen frönen. Und in diesem Fall passt das ideal zusammen, denn die meisten Kompositionen, die amarcord gefunden hat, sind für Männerchor und (Ventil-)Hörner geschrieben.

Und wer nur reine Jagdlieder erwartet – so nach dem Motto: Hirsch ist tot! – der irrt. Gewaltig. Denn hier wird eben noch einmal die ganze komplexe Beziehung des romantischen Deutschland zu Wald und Jagd hörbar. Angefangen mit den fünf Gesängen aus Heinrich Laubes „Jagdbrevier“, die Robert Schumann vertont hat. Beide liefen sich ja bekanntlich in Leipzig über den Weg – der eine als Herausgeber der „Zeitung für die elegante Welt“, der andere als Leiter der „Neuen Zeitschrift für Musik“. Zwei Schwergewichte für dieses romantische junge Deutschland. Und wer hier hört, was Schumann aus Laubes Texten gemacht hat, der braucht nicht mehr auf die Jagd zu gehen, der hat alles schon beim Zuhören erlebt.

Wobei die CD gar nicht mit Schumann beginnt. Sie ist ja selbst in einem Spannungsbogen der Temperamente angelegt. Und zum Auftakt gibt es das Waldlied von August Horn, einem Leipziger Komponisten, den nicht mal die Autoren der Notenspur kennen. Obwohl es „der kleine Horn“ verdient hat, dort aufzutauchen. Aber vielleicht taucht er dort nicht auf, weil er so gern für Männerchöre komponierte. Die CD mit ihren insgesamt 22 Titeln steckt voller solcher Überraschungen. Zu denen gehört auch Karl Goldmarks eigentlich gern gespielte (und zur Untermalung von TV-Reportagen) verwendete „Meeresstille und Glückliche Fahrt“, wo das Horn aufhört, Waldromantik zu suggerieren, sondern zum Sound von froher Hoffnung und glücklicher Ankunft wird. Es ist ein gemütvolles Instrument und man weiß am Ende, warum es im eigentlich doch naturverliebten 19. Jahrhundert so gern verwendet wurde. Es assoziierte genau das, was man gerade überall verlor – Nähe zur Natur, das selbstverständliche Einssein mit der Welt. Ein Sehnsuchts-Instrument, das aber auch – so wie bei Constantin Homilius – fähig war, die ganze Bandbreite vom Tanz bis zum Marsch aufzunehmen.

Eher nicht dem martialischen Marsch der Militärs, dazu eignen sich Trompeten besser. Aber den ordentlichen Marsch rüstiger Wanderer, die die Freude am Unterwegssein mit weiten Schritten ausleben. Im Wald natürlich. In den man auch ohne Flinte marschieren konnte, wie in den sechs Liedern von Ferdinand Hummels „Waldwanderung“ zu hören. Da hat man eigentlich noch die richtige Wanderlust des 19. Jahrhunderts, als Tourismus noch nicht als Fertigpaket im Reisebüro gekauft wurde und man sich noch Zeit ließ mit dem Wandern. Die Rast im Wald wurde genauso genüsslich zelebriert wie der Abschied vom Wald. Denn natürlich hatte man am Ende des Jahrhunderts schon ein sehr gebrochenes Verhältnis zum Wald. Die heile Welt des „Taugenichts“ gab es ja nicht mehr. Man musste schon ziemlich lange Anreisen in Kauf nehmen, um noch einen richtigen Wald von akzeptabler Größe zu finden. Entsprechend neu waren auch die Gefühle darinnen. Die frappierende Stille jenseits der lärmenden Städte empfand man – wie Carl Steinhauer, der den Reigen beschließt – als „Waldeinsamkeit“. Als wenn die gut gebauten Herren nun lauter Hänsels oder Gretels gewesen wären.

Aber so weit weg ist das ja nicht, auch wenn alle Kompositionen aus dem 19. Jahrhundert stammen. Romantik ist immer Sehnsucht nach etwas Idealem, einer imaginierten Welt. Und gerade in den Wald haben Dichter, Maler und Komponisten die ganzen überbordenden Gefühle einer zusehends unheileren Welt hineinkomponiert. Aber unüberhörbar ist auch, wie reich diese Beziehungskiste bestückt war. Und wie reich diese Musikwelt, die die Sänger von amarcord hier ausgepackt haben. Es sind tatsächlich lang nicht mehr gehörte „unbekannte Farben und Klänge“, die man hier hört. Zu Unrecht lange nicht mehr gesungen, eine echte Wieder-Entdeckung. Den Termin am Biedermeierstrand sollte man also nicht verpassen, denn danach sind die beiden Ensembles auf anderen Bühnen weiter fort unterwegs. Und wenn es gar nicht klappen will, hat man ja diese CD, die man am besten nicht im Wald hört, sondern zu Hause, wenn man wieder mal 68 Minuten Wald braucht, aber keinen zur Hand hat.

amarcord und german hornsound „Wald.Horn.Lied“, Genuin 2016, LC: 12029, EAN: 4260036254341

Tipp: Am Sonntag, 12. Juni, um 15.30 Uhr sind amarcord und german hornsound beim Festival Sommertöne am Biedermeierstrand am Schladitzer See bei Hayna zu erleben.

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