„Punk trifft Big Band“, so könnte man beinahe auf einen Nenner bringen, was die Leipziger Band „100 Kilo Herz“ so treibt. Die sechs Leipziger, die 2017 ihr Debütalbum veröffentlichen, verorten sich selbst eher im Bereich Ska, Punkrock und Alternative Rock. Und jetzt haben sie auch etwas, was sich andere Bands mit Glitzern in den Augen unter den Weihnachtsbaum legen: eine richtig starke Scheibe, deren zwölf Titel am edelsten Ort aufgenommen wurden, den Leipzig zu bieten hat.

„Akustisch im Gewandhaus“ heißt sie. Und ist das Ergebnis eines Konzertes, das 100 Kilo Herz am 17. September 2021 im Rahmen der Reihe „Leipzig klingt weiter“ im Mendelssohn-Saal des Gewandhauses spielen durfte. Eine Konzertreihe, die das Leipziger Gewandhaus im ersten Jahr der Corona-Pandemie extra auflegte, weil als Pandemie-Folgen reihenweise Konzerte abgesagt worden waren und praktisch alle Auftrittsorte der Freien Szene verriegelt und verrammelt waren. Was nicht nur für die Veranstalter eine Tragödie war, sondern auch für die Künstler.

Das rührte damals auch die Geschäftsleitung des Gewandhauses: „Wenn eine Musikstadt verstummt, wollen wir sie weiter klingen lassen!“

Und es war nicht nur eine Herzensgeste, sondern auch die Umsetzung einer alten Idee, die in den Vorjahren zwar immer wieder diskutiert worden war, aber nie so recht zur Umsetzung kam. Obwohl auch die klassischen Musiker aus dem Gewandhaus mitkriegten, auf welch hohem Niveau Leipziger Bands und Musiker/-innen spielen.

Mehrere Songs, die damals aufgenommen wurden, findet man auch im Youtube-Kanal der Band.

An Ampeln (Akustisch im Gewandhaus)

Sie lassen mit der prägnanten Stimme von Sänger Rodi im Vordergrund schon sehr genau hören, mit welchen Ambitionen „100 Kilo Herz“ angetreten sind. Man erkennt sein Leipzig wieder. Jedenfalls das Leipzig all derer, die nicht satt und traumlos darin unterwegs sind, sondern aufmerksam, verstört, auch wütend.

In „Dreck und Glitzer“ kocht diese Wut ganz oben, denn wer keine Tomaten auf den Augen hat, sieht, dass unser falscher Wohlstand auch damit erkauft ist, dass auf dem Mittelmeer hunderte Menschen mit ihren Booten untergehen. Und gleichzeitig werden „Menschen weggeknüppelt, die friedlich demonstrieren“. Gerade erst wieder erlebt in Lützerath. Da kennen deutsche Innenminister kein Pardon.

Doch wer auf der rechten Seite steht, „dem kann das nicht passieren“. Das ist die Wut der Straße. Und die Wut der noch allemal jungen Menschen, die für die wichtigen Anliegen unserer Zeit auf die Straße gehen – und sich dann gefallen lassen müssen, von boshaften Politikern zu „Terroristen“ erklärt zu werden.

Dreck und Glitzer (Akustisch im Gewandhaus)

Hinter diesen Songs ist Dampf. Der beim Konzert im Mendelssohn-Saal noch durch Gäste verstärkt wurde: einen Saxofonisten, einen Trompeter, einen Posaunisten und einen Schlagzeuger. Da war die Big Band im Grunde vollständig. Und das Publikum erlebte mit, was für eine Wucht hinter diesen Songs steckt und was für ein Rhythmus. Das swingt regelrecht. Und wäre da auch noch ein Tanzboden gewesen, hätten die Konzertgäste garantiert auch noch getanzt.

Und zwar nicht nur wegen des mitreißenden Sounds, sondern weil es Lieder aus dem richtigen Leben sind, dem, das die meisten ganz schnell vergessen, wenn sie sich mit Anzug und Krawatte arriviert haben. Nur ja nicht mehr betroffen sein. Nur ja nicht mehr von Gefühlen mitreißen lassen. Gar riskieren, auszubrennen, weil man sich zu sehr für eine Sache eingesetzt hat.

So war im Gewandhaus auch einmal zu erleben, was sonst auf deutlich kleineren Konzertbühnen abgeht. Und das Ausgebranntsein ist auch den sechs Musikern von „100 Kilo Herz“ nicht ganz fremd. Denn die kurze Zeit ihrer Existenz hat die Band schon über 100 Konzerte hervorgebracht. „Zu sechst unterwegs, mit einer klassischen Punkrockbesetzung, mit Trompete und Saxofon obendrauf. Wohin der Weg geht, wusste am Anfang niemand und in dem Zustand ist die Band immer noch. Nur eins ist immer wichtig und wird immer wieder zu hören sein: Passt auf euch auf!“

Denn diese Band weiß sich mit ihrem Publikum einig. In ihren Träumen, Hoffnungen und den täglichen Erfahrungen in einer Großstadt, die am liebsten nur ihre schönen Seiten zeigt und die dreckigen und widerborstigen, wo das Leben für die dort Wohnenden richtig hart ist, lieber versteckt. Gern so tut, als könne man nur Sahnetorte sein und das Leben wie einen Supermarkt benutzen. Man gewinnt ein recht deutliches Bild davon, wen die Band meint, wenn es in „Drei Jahre ausgebrannt“ heißt: „Ich will kein Teil von eurem Leben sein.“

Auch dieser Song ist auf der Platte.

Drei Jahre ausgebrannt

Das mag für besorgte Bürger sehr besorgniserregend klingen. Aber das kann es nur, wenn tatsächlich gelten würde, dass die Vorstellungen von Normal und Wohlstand für alle gleichermaßen gelten. Was besorgte Bürger ja durchaus genau so sehen: Wer aus der Reihe tanzt, stört. Der stört die Ruhe, die des Bürgers erste Pflicht ist. Die der empörte Bürger als oberste Pflicht sieht. Da steckt er nach wie vor, der gestrenge Schutzmann im empörten Bürger.

Was interessiert es ihn, ob die Welt verbrennt? Sollen sich doch andere kümmern. Ihm ist das egal. Natürlich ist auch „Es brennt“ auf der Scheibe zu finden.

Eine Scheibe, die auch den Lauschenden daheim an seinem Plattenspieler aus dem Sessel fegen dürfte. Wenn er sitzen bleibt, ist er selber schuld. Dann wird eben sein Blutdruck steigen und der ganze Körper wird von allein in Bewegung kommen. Wahrscheinlich auch das längst Verschüttete und Weggesperrte im Kopf: Darf man denn wütend sein? Völlig losgelassen und außer sich, wenn man sieht, was mit unserer Welt passiert?

Eigentlich: Ja. Die Platte ist nicht nur edel in Schwarz gekleidet. Das Album enthält auch eine große farbige Bilderstrecke vom Auftritt im Gewandhaus – hinter der Bühne, auf der Bühne und mit Blick aus dem Publikum. Dazu lauter kleine Statements zu den Songs. Bis hin zu dem wichtigsten am Ende von „Wenn es brennt“: „Wir haben immer noch Hoffnung.“

Und so geht man auch heraus aus dieser Session, wenn die Platte austrudelt und das Gefühl im Hinterkopf pocht: Jetzt musst du was tun. Sitzen bleiben ist nicht.

100 Kilo Herz „Akustisch im Gewandhaus“, Bakraufarfita Records, Dortmund und Berlin 2023.

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