Das Bach-Werkeverzeichnis (BWV) ist seit Montag, dem 17. November, um zwei Nummern reicher: Dem Direktor des Bach-Archivs Leipzig Peter Wollny gelang die Zuschreibung zweier bislang unbekannter Orgelwerke Johann Sebastian Bachs. Mit einem gestreamten Festakt unter Anwesenheit von Kulturstaatsminister Wolfram Weimer und dem Leipziger Oberbürgermeister Burkhard Jung feierte die Stadt Leipzig gemeinsam mit der weltweiten Bach-Gemeinde die Wiederaufführung der Werke seit 320 Jahren in der Leipziger Thomaskirche.
Die beiden jetzt als Frühwerke Bachs identifizierten Kompositionen, die Ciacona in d-Moll BWV 1178 und die Ciacona in g-Moll BWV 1179, kennt der Leipziger Bach-Forscher und Direktor des Bach-Archivs Leipzig Peter Wollny bereits seit über 30 Jahren. Gefunden hat er sie in der Königlichen Bibliothek Belgiens. Im Lauf seiner Forscherkarriere sammelt der Musikwissenschaftler zahlreiche Hinweise, die sich nun mit dem letzten Puzzleteil ‒ der namentlichen Identifizierung des Schreibers ‒ zu einem vollständigen Bild fügen.
Die Identifizierung gelang im Rahmen der Arbeiten am „Forschungsportal BACH“, eines Akademieprojekts der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, in dem erstmals sämtliche verfügbare archivalische Quellen zur gesamten Musikerfamilie Bach digital erschlossen und öffentlich zugänglich gemacht werden.
Prof. Dr. Dr. h. c. Peter Wollny erklöärt zu seinem Fund: „Lange habe ich nach dem fehlenden Puzzlestück für die Zuordnung der Kompositionen gesucht – jetzt offenbart sich das ganze Bild. Wir können definitiv sagen, dass die Abschriften um 1705 von dem Bach-Schüler Salomon Günther John angefertigt worden sind. Stilistisch erhalten die Werke darüber hinaus Merkmale, die man zu dieser Zeit in Bachs Werken findet, sonst aber bei keinem anderen Komponisten.
Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Königlichen Bibliothek Belgiens und des Bach-Archivs Leipzig für ihre jahrzehntelange Unterstützung meiner Forschung. Besonderer Dank gilt den Förderern unserer Stiftung: dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Freistaat Sachsen und der Stadt Leipzig für ihr stetiges Vertrauen und die finanzielle Sicherung unserer Arbeit.“
Beide Orgelkompositionen sind am 17. November im Leipziger Traditionsverlag Breitkopf & Härtel erschienen und für die Allgemeinheit somit ab sofort zugänglich. Der Stream des Festaktes mit der Interpretation der Werke durch den niederländischen Organisten Ton Koopman in der Thomaskirche zu Leipzig ist on-demand auf den Kanälen des Bach-Archivs Leipzig abrufbar.
„Die ersten Früchte seines Fleißes …“: Die Geschichte der Entdeckung
Als der 18-jährige Johann Sebastian Bach 1703 im thüringischen Arnstadt seine erste Stelle als Organist antritt, beginnt eine produktive Zeit. Hier erlangt er mit seinem Komponieren ein professionelles Niveau; sein Sohn Carl Philipp Emanuel spricht später von den »ersten Früchten seines Fleißes«.
In seinem Arnstädter Schaffen greift Bach die Anregungen aus der Lehrzeit bei seinem ältesten Bruder in Ohrdruf (1695–1700) und seiner Ausbildung bei Georg Böhm in Lüneburg (1700–1702) auf und beginnt mit der Vereinigung von mittel- und norddeutschen Traditionen zu experimentieren.
Die beiden jetzt als Frühwerke Bachs identifizierten Kompositionen, die Ciacona in d-Moll BWV 1178 und die Ciacona in g-Moll BWV 1179, kennt der Leipziger Bach-Forscher Peter Wollny bereits seit über 30 Jahren. Gefunden hat er sie in der Königlichen Bibliothek Belgiens. Von Anfang an faszinierten ihn die Handschriften und er versucht, ihre Geheimnisse aufzudecken.
Im Lauf seiner Forscherkarriere sammelt der Musikwissenschaftler zahlreiche Hinweise, die sich nun mit dem letzten Puzzlestück, der namentlichen Identifizierung des Schreibers, zu einem vollständigen Bild fügen. Anhand von Kopien und im Zuge mehrerer Besuche in Brüssel hat er die beiden Handschriften immer wieder studiert ‒ und jede einzelne Note mehrfach begutachtet.
Es ist harte Arbeit, ein Stück Bach zuzuschreiben: Beide Manuskripte sind nicht von Johann Sebastian Bachs Hand, dazu undatiert und nicht signiert. Doch den zunächst namenlosen Schreiber kann Peter Wollny auch in anderen Quellen aus Bachs Umfeld nachweisen – zum Beispiel in einem anderen Frühwerk Bachs, einer Fuge über ein Thema von Albinoni. Hinzu kamen weitere Stücke aus dem mitteldeutschen Raum.
Die Suche nach der Identität des Schreibers wird zu einer jahrzehntelangen Detektivgeschichte: Wollny, inzwischen Direktor des Bach-Archivs Leipzig, ist seit 2023 unter anderem mit der Projektleitung des „Forschungsportal BACH“ betraut. Das Langzeitprojekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig erschließt in einem Zeitraum von 25 Jahren mit neuesten Methoden der Digital Humanities erstmals digital sämtliche verfügbare archivalische Quellen zur gesamten Musikerfamilie Bach und macht diese öffentlich zugänglich.
Wollnys Mitarbeiter Dr. Bernd Koska findet bei Recherchen im Rahmen des Projekts in einem thüringischen Kirchenarchiv ein Bewerbungsschreiben aus dem Jahr 1729. Ein der Bach-Forschung bislang völlig unbekannter Organist namens Salomon Günther John behauptet darin, in Arnstadt Bachs Schüler gewesen zu sein. Johns Lebensgeschichte lässt sich daraufhin gut rekonstruieren: Von 1705 an bis 1707 nimmt er Unterricht in Arnstadt bei Bach und auch in späteren Jahren taucht er in Weimar noch einmal in Bachs Umfeld auf. Wollny sucht nach Dokumenten und findet schließlich frühe Schriftzeugnisse von John, anhand derer er eindeutig als der gesuchte Kopist bestimmt werden kann.
Die Abschriften sind um 1705 entstanden. Stilistisch enthalten die Kompositionen Merkmale, die man zu dieser Zeit in Bachs Werken findet, sonst aber bei keinem anderen Komponisten, beispielsweise die Verbindung von Variation und Ostinato mit einer ausgedehnten Fuge. Zudem finden sich Techniken, die stark an den Lüneburger Organisten Georg Böhm erinnern, Bachs Lehrer.
Johann Sebastian Bachs frühe Kompositionen sind bis in die Weimarer Zeit von solchen Anklängen an Böhm durchzogen. Zudem gibt es musikalische Anklänge an die Chaconne aus Bachs Kantate BWV 150.
Mit der Zuschreibung der beiden Orgelkompositionen ist das Bach-Werkeverzeichnis um zwei Nummern reicher. Der Fund reiht sich ein in die stattliche Zahl größerer und kleinerer Entdeckungen, die Mitarbeitern des Bach-Archivs im Zuge der an dieser Institution seit nunmehr 75 Jahren durchgeführten Grundlagenforschung geglückt sind.
Das Bach-Archiv
Das Bach-Archiv Leipzig ist das musikalische Kompetenzzentrum zu Johann Sebastian Bach am Hauptwirkungsort des Komponisten. Die Institution feiert im Jahr 2025 den 75. Jahrestag ihrer Gründung. Ihr Zweck ist, Leben, Werk und Wirkungsgeschichte des Komponisten und der weit verzweigten Musikerfamilie Bach zu erforschen, sein Erbe zu bewahren und als Bildungsgut zu vermitteln.
Das Bach-Archiv ist Mitglied der Konferenz Nationaler Kultureinrichtungen und gehört zu Deutschlands „Kulturellen Leuchttürmen“; das „Forschungsportal BACH“ ist ein Projekt der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig mit Sitz am Bach-Archiv Leipzig.
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