Am 15. Dezember betritt Lina E. sichtlich erschöpft den Hochsicherheits-Gerichtssaal in Dresden. Der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats erklärt, dass die 26-Jährige am Tag zuvor ihre Auffrischungsimpfung erhalten hat: „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Pause brauchen.“

Zunächst wird jedoch ein weiterer Geschädigter vom Angriff am Wurzener Bahnhof gehört. Erst 18 Jahre ist Karl-Jonas K. alt; als er am 15. Februar 2020 vom sogenannten Trauermarsch, dem sogenannten „Bombengedenken“ von Neonazis aus Dresden zurückkam, war er noch minderjährig. K. beginnt vom Tag des Angriffs zu erzählen. Er habe sich mit Marcel A. am Bahnhof verabredet. A. wird am darauffolgenden Prozesstag ebenfalls als Zeuge aussagen – nur zeigt er sich lange nicht so gesprächig wie der 18-jährige K. Dieser erzählt, dass er am 15. Dezember in Wurzen mit fünf anderen aus der Bahn gestiegen sei. Darunter Ben H., den er der NPD-Jugendorganisation „Junge Nationalisten“ zuordnet und als einen „ziemlichen Spritti“ bezeichnet, der betrunken hin und wieder Straftaten begeht – vom Einbruch in einen Glühweinstand bis hin zu Körperverletzung.

Als Schlüter-Staats ihn fragt, warum einer seiner anderen Mitreisenden, Benjamin S., schon zwei Mal nicht im Zeugenstand erschienen sei, antwortet K.: „Der hat Muffensausen, dass er wieder abgefangen wird.“ S. hätte wohl um Polizeischutz gebeten. Der Vorsitzende scherzt daraufhin: „Den hätte er von uns auf Amtswegen gekriegt, auf seine Kosten.“ Die Wurzener Polizei sollte S. schließlich schon längst vor Gericht vorführen, kann ihn derzeit aber nicht finden.

Pöbelnde Rechte, unsichtbare Linke

K. erzählt weiter vom 15. Februar 2020. In der Bahn sei ihm nichts besonderes aufgefallen: „Es war mein erster Trauermarsch. Meine Augen waren noch nicht geschult für so etwas.“ In dem Abteil, in dem er und weitere Personen aus der rechten Szene waren, habe eine, so K., „Bilderbuch-Linke“ mit bunten Haaren gesessen. Einige seiner Kollegen hätten diese angepöbelt.

Außerdem hätte ein älterer Trauermarsch-Teilnehmer ihn und Marcel A. gebeten, sich im Zug „nach Linken umzuschauen“. Als Schlüter-Staats dem Zeugen einige Fotos zeigt, erkennt dieser den Leipziger Neonazi und Ex-Stadtrat Enrico Böhm wieder. „Das würde passen. Er saß in ihrer Nähe“, erläutert der Vorsitzende. K. habe trotz seiner Größe jedoch keine Person gesehen, die er dem linken Spektrum zuordnen würde.

Als die Gruppe in Wurzen ausstieg, seien 15 bis 20 schwarz vermummte Personen um die Bahnhofsecke aus Richtung Unterführung gekommen. K. sei am Rucksack gepackt, zu Boden gedrückt und mit einem „Schlagwerkzeug, das (er) nicht definieren kann“, geschlagen worden, während die Angreifer Sachen brüllten wie „Scheiß Nazi“. Der Angriff war schnell vorüber, so K.

Als er sich wieder aufrichten konnte, sei ihm einer der Angreifer noch entgegengekommen und habe mit einem „Schlagstock“ auf ihn gezeigt ohne ihn erneut anzugreifen.

Ein Gerücht macht die Runde

Auf dem Weg zum „Sammelpunkt“ am Netto sei ein Auto mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeigefahren. Schlüter-Staats sagt, dass K. bei seiner ersten Polizeivernehmung nach dem Überfall von einem roten, kleinen Ford gesprochen hatte. Die Autos, die die Gruppe um Lina E. benutzt haben soll, entsprechen alle nicht dem genannten Fahrzeugtyp. Der Staatsschutzsenat verkündet außerdem, dass die Erhebung personenbezogener Daten aus der Innenraumüberwachung dieses Autos zulässig war.

Ob das Auto etwas mit dem Angriff zu tun hatte, weiß K. derweil nicht. Er habe sich aber mit anderen Geschädigten und Bekannten unterhalten und ein Gerücht habe die Runde gemacht: Die Angreifer kämen aus Grimma. Eine Aussage, die sich am nächsten Prozesstag noch verfestigen soll.

Nachdem eine medizinische Sachverständige zu den Verletzungen der Geschädigten vom 15. Februar 2020 befragt wird, bringt die Verteidigung einen Antrag ein. Die Angeklagte E. sei aufgrund der Impfnebenwirkungen nicht mehr in der Lage, den Prozess aufmerksam zu verfolgen. „Wir sind zwar interessiert an einem schnellen Verfahren, aber das helle Licht in dem Raum unten und die 12 Meter hin und zurück an der frischen Luft mit gefesselten Händen sind nicht erholsam.“

Schlüter-Staats fragt E. selbst. Diese antwortet: „Ja, ich habe schwere Kopfschmerzen.“ Es ist das erste Mal im gesamten Prozessverlauf überhaupt, dass E. spricht.

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