Drei Monate nach seinem Beginn scheint der Prozess gegen die Studentin Lina E. und drei mitangeklagte Männer wegen brutaler Angriffe auf rechts bis rechtsextrem eingestellte Personen in der Ebene der mühsamen Suche nach der Wahrheit angekommen – oder vielmehr der Frage, inwieweit den Angeklagten eine Tatbeteiligung nachzuweisen ist. Die Zeit bis zu einem Urteil am Oberlandesgericht Dresden dürfte sich noch lange strecken.

Kleine Grüppchen stehen zusammen, schnacken, rauchen noch schnell eine Zigarette. Es ist ein beachtlicher und treuer Unterstützerkreis, der sich an diesem kalten Dezembermorgen wieder vor der Außenstelle des Oberlandesgerichts (OLG) am Hammerweg in der Dresdener Albertstadt versammelt hat.

Prozess unter Sicherheitsvorkehrungen

Der klobige Hochsicherheitsbau, wo schon die Neonazis der „Gruppe Freital“ und der islamistische Mörder von Dresden vor Gericht standen, ist seit September 2021 Ort des Prozesses gegen die 26-jährige Studentin Lina E. aus Leipzig und drei junge Männer (27, 27, 36). Sie sollen äußerst brutale Attacken auf tatsächliche oder vermeintliche Neonazis zwischen 2018 und 2020 begangen oder geplant haben – meist in und um Leipzig, aber auch in Eisenach.

Jeweils zu zweit werden die Anwesenden, unter ihnen Lina E.s Mutter, und die heute nur wenigen Medienvertreter von den Justizbeamten nach und nach in den Vorraum gewunken und der Leibesvisitation unterzogen. Es ist die übliche Prozedur, die jeder über sich ergehen lassen muss, bevor er nur in die Nähe des Gerichtssaals kommt, Jacken aus, Taschen entleeren, Sicherheitsscan, Abtasten – wie am Flughafen. Neu ist nur, dass nun auch eine strikte 3G-Regel gilt: Wer keinen Impf-, Genesungs- oder Testnachweis hat, darf nicht rein.

Die junge Zeugin

An diesem 9. Dezember verzögert sich der Verhandlungsbeginn, der eigentlich für 9.30 Uhr angesetzt war. Der Vorsitzende Richter Hans Schlüter-Staats entschuldigt sich, er habe die nächste Zeugin noch kurz auf den Auftritt vorbereitet. Das wird verständlich, als sie mit ihrer Mutter den Saal betritt, denn sie ist erst 15 Jahre alt.

Auf dem Zeugenstuhl schildert Schülerin Anna S. (Name geändert) ihre Erinnerung an den 15. Februar 2020. Damals, kurz bevor die Pandemie das öffentliche Leben erst mal lahmlegte, hatten bis zu 20 Vermummte kurz nach 19.30 Uhr sechs Männer am Wurzener Bahnhof überfallen, die gerade vom rechtsextremen „Trauermarsch“ aus Dresden zurückkehrten.

Lina E. und ihr Verlobter, der heute untergetauchte Johann G., sollen die Opfer zuvor im Regionalexpress von Dresden nach Leipzig heimlich ausgespäht und die Komplizen informiert haben.

Lautes Gebrüll im Dunkeln

Anna S. war mit ihrer Mutter gerade bei deren Freunden in Wurzen zu Besuch und stand mit einem jüngeren Kind des Hauses im Garten, als ein fürchterliches Brüllen aus der nahen Bahnhofs-Unterführung die Mädchen erschreckte. Zwei Personen, Anna S. nennt sie „Jungs“, kamen dann herangerannt, stockten kurz an dem Haus und flüchteten weiter.

Die zwei Kinder im Garten bekamen Angst, liefen schnell zu ihren Eltern. „Es war ja auch schon recht spät und dunkel“, sagt die junge Zeugin. Die Eltern beschwichtigten, es wäre schon nichts. Erst als sie später die Polizei am Tatort sahen, wurde klar, dass etwas Ernsteres passiert sein musste.

In ihrer Polizeivernehmung hatte Anna S. noch angegeben, 5-6 weitere Personen seien auf das Duo gefolgt und hätten über die nahe Eduard-Schulze-Straße das Weite gesucht. Daran kann sie sich nun nicht mehr erinnern, an Gesichter sowieso nicht. Eine der beiden Personen am Anfang habe aber einen blauen Windbreaker mit dem Logo der Marke „ellesse“ angehabt. Geschätzt 16-20 seien die „Jungs“ gewesen. „Es war jetzt nicht ein 40-jähriger Mann oder so“, meint die 15-Jährige.

„Hier wird gleich was passieren“

Auch Marcel T. saß im Zug aus Dresden, war auf dem Weg zu seiner Schwester und stieg in Wurzen aus. Dem heute 23-Jährigen fiel am Bahnhof gleich eine Schar von 10-15 Vermummten auf, „weil sie komplett schwarz waren.“ Mit Bierflaschen und „möglicherweise Teleskopschlagstöcken“ seien sie auf eine kleinere Gruppe losgegangen. „Hier wird gleich was passieren“, sagte er kurz zuvor noch am Handy zu seiner Schwester, die ihn bat, schnell in die Wohnung zu kommen.

„Los und in der Gruppe bleiben!“, habe einer gerufen, ehe der schnelle Angriff begann. Danach seien die Täter geflüchtet, er hörte Autos auf dem Parkplatz wegfahren, erinnert sich Marcel T. zurück. Eine schwarz-weiß-rote Fahne, die gerade noch einer der Rechtsextremen, laut Zeuge ein „dicker Glatzkopf“ in den Dreißigern, im Zug bei sich hatte, lag kaputt bei der Unterführung.

Als der Spuk vorbei war, ging Marcel T. zu einem der Angegriffenen, der wegen einer Platzwunde erheblich blutete, bot ihm sein T-Shirt an. Der habe aber keine weitere Hilfe gewollt.

Langsame Mühlen der Wahrheitssuche

Dieser Prozesstag endet bereits gegen 13 Uhr, weil noch eine interne Fortbildung stattfindet. Einen hitzigen Schlagabtausch zwischen Verteidigung und Richterbank, wie in der Anfangsphase des Prozesses, gibt es diesmal nicht. Auch am Vortag kam die Verhandlung nur langsam voran – gesichtet wurden unter anderem über 100 Fotos der polizeilichen Hausdurchsuchung bei der Hauptangeklagten. Einer der geschädigten Zeugen war dem Gerichtssaal zum wiederholten Mal ohne Entschuldigung ferngeblieben.

Erst ein Teil der vorgeworfenen Tatkomplexe ist abgearbeitet, der Prozess nach der ersten Aufregung in den Mühlen der Wahrheitssuche angekommen. Die Angeklagten schweigen weiterhin – und Lina E., die als einzige der vier in U-Haft sitzt, ist längst zu einer Symbolfigur der linken Szene geworden, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens.

Einschlägige Gruppen kritisieren den Prozess als politisch und Kriminalisierung antifaschistischer Aktivität, werfen den Behörden vor, ohne jeden Beweis eine kriminelle Vereinigung anzunehmen.

Ermittlungen gegen Kriminalbeamten eingestellt

Viele Spannungen entstehen im Verhandlungssaal, wenn die Riege der Strafverteidiger den Zeugen der Polizei ihre Fragen stellen darf. Dass ein grundsätzliches Misstrauen gerade gegen die „Soko LinX“ des LKA Sachsen vorhanden ist, hat Ulrich von Klinggräff, einer von Lina E.s Anwälten, längst offen ausgesprochen.

In dem Zusammenhang verkündet der Vorsitzende Schlüter-Staats dann noch eine Neuigkeit: Die Ermittlungen gegen Patrick H., Kriminaloberkommissar der „Soko LinX“, wegen Verdachts auf Geheimnisverrat wurden eingestellt, so die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Chemnitz.

Es ist an diesem Tag die vielleicht aufregendste Nachricht. Und Grund für weitere Nachfragen im Fallkomplex rings um Henry A.

Für den Prozess sind weitere Termine bis Ende März 2022 anberaumt.

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Es gibt 4 Kommentare

Sorry, da war der Kommentar schon weg.

Das meinte ich, mit meinem Satz zu Patrick H. Alles muss neutral ermittelt und aufgearbeitet werden.
Dazu gehört eine Ermittlung in jede Richtung und natürlich immer mit aller Gründlichkeit.

Ich verfolge das auch mit Interesse.
Das (ich denke schon gut erkennbare) Ungleichgewicht der Ermittlungsanstrengungen zwischen der linken und der rechten Seite sollte meiner Meinung nach aber nicht durch Absenkung bei unserer geschätzten Lina behoben werden, sondern durch enorme Erhöhung der Anstrengung auf der rechten Seite. Dass Akten plötzlich weg sind oder aus Versehen geschreddert wurden ist natürlich etwas, was es nicht geben darf. Neben den anderen Ungereimtheiten.

Eine, für mich, nicht durchschaubare Gemengelage.
Wenn man den Vergleich zum NSU (ja klar, ganz andere Liga) zieht, wo von Anfang an klar war, dass die Angeklagte zu einer terroristischen Vereinigung gehört, da verwundert mich die Akribie und Vorverurteilung, mit welcher in diesem Prozess gegen die Angeklagten vorgegangen wird. Als ob man es “den Linken” von Seiten Gericht / Staatsanwaltschaft / Polizei mal richtig zeigen möchte…
Und das, soweit ich das überblicke, bisher ohne jegliche belastbare Beweise.

Dazu passt dann die Nachricht: Ermittlungen gegen Patrick H. wurden eingestellt. Boah, das regt mich auf! Wie sollen solche Leute neutral im Rahmen der Soko LinX ermitteln?

Im NSU-Komplex wurde das (absichtliche?) Versagen der Behörden leider auch nicht weiter thematisierst bzw. im Anschluss befriedigend aufgearbeitet (zumindest nicht vollumfänglich).

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