Marcel A. ist 17 Jahre alt, als er am 16. Dezember den Zeugenstand am Oberlandesgericht Dresden betritt. Nachdem er sich auf den Stuhl inmitten des Gerichtssaals gesetzt hat, atmet er tief durch. „Meine Erinnerungen an den Tag sind sehr schlecht“, erklärt der Schüler zu Beginn seiner Befragung. Während dieser reibt er sich oft die Hände und fährt sich nervös durch's Gesicht, auch wenn seine Antworten desinteressiert und abgeklärt klingen. Mit Spannung erwartet an diesem Verhandlungstag: der Auftritt von Kriminaloberkommissar Patrick H., zu diesem Zeitpunkt gerade scheinbar entlastet von Vorwürfen gegen ihn, er habe Ermittlungsinformationen an die Presse weitergegeben.

„Lächerlich, was Sie hier abziehen“

Da A. selbst nichts zu sagen hat, löchert ihn der Vorsitzende Richter Schlüter-Staats mit Fragen zum Überfall am 15. Februar 2020 in Wurzen. Der Zeuge antwortet meist mit „Keine Ahnung“ oder schiebt seinen Aussagen ein „vermutlich“ hinterher. Irgendwann platzt Schlüter-Staats der Kragen: „Es ist lächerlich, was Sie hier abziehen. Ich weiß nicht, ob es Ihnen peinlich ist, dass Sie damals mit Rechten unterwegs waren oder ob Linke Ihnen gesagt haben, Sie sollen den Mund halten.“ Am Tag zuvor hatte sein ehemaliger Freund Karl-Jonas K. gesagt, Marcel A. sei jetzt „glühender Kommunist“. A. bestreitet das – er habe sich nur von der rechten Szene distanziert und den Freundeskreis gewechselt. Wer nicht rechts ist, muss links sein – so die Logik seines ehemaligen Kumpels K.

A. erzählt, dass er nach dem Dresdner Trauermarsch am 15. Februar 2020 mit den anderen am Bahnhof Wurzen ausgestiegen sei. Dann kamen die vermummten Angreifer um die Ecke: „Es war wie eine schwarze Welle, die auf einen hereinbricht.“ Er könne nicht sagen, ob es 6, 10 oder 20 Personen waren. Er sei nur so schnell gelaufen, wie er konnte und als einziger den Angreifern entkommen.

Im Nachgang habe ihm jemand erzählt, dass während des Überfalls jemand rief: „Lulu, du hast das verdient.“ Lulu sei der Spitzname von Lucas Z., der ebenfalls unter den Geschädigten ist. Dieser soll laut Marcel A. und auch nach Aussagen von Karl-Jonas K. früher in der „linken Szene aktiv“ gewesen sein.

Ein verdächtiger Facebook-Account

Die Verteidigung versucht daraufhin, A. seine erste Polizeivernehmung nach der Tat ins Gedächtnis zu rufen. Ein Beamter habe erzählt, dass A. den Polizist/-innen nach dem offiziellen Protokoll noch einen Tipp gegeben habe: Sie sollen sich den Facebook-Account von Robert R. anschauen. Recherchen sollen ergeben haben, dass R. aus Grimma kommt.

Nach ersten LZ-Erkenntnissen wurde der Account mittlerweile gelöscht. Am Prozesstag zuvor, dem 15. Dezember, erwähnte auch Karl-Jonas K., dass das Gerücht in Wurzen die Runde gemacht habe, dass Leute aus Grimma für den Überfall verantwortlich seien.

A. wird aus dem Zeugenstand entlassen. Ob er bewusst Wissen vorenthalten hat und wenn ja, ob er dahingehend eingeschüchtert wurde oder sich freiwillig so geäußert hat, bleibt ein Rätsel.

Als zweiter Zeuge wird Patrick H. in den Raum gebeten. Wie bei seiner letzten Befragung Ende September bringt der LKA-Beamte der „Soko LinX“ einen Zeugenbeistand mit und schweigt sich weitgehend aus. Obwohl er laut Staatsanwaltschaft Chemnitz angeblich vollumfänglich entlastet sei, beruft sich der Hauptoberkommissar auf sein Aussageverweigerungsrecht in bestimmten Punkten, vor allem jenen, in denen er sich selbst belasten könnte.

Erneut entbrennt eine Diskussion über die Durchstechereien und Weitergabe von Ermittlungsunterlagen an das rechtsextreme „Compact“-Magazin und eventuelle Zeugenbeeinflussungen.

H. darf den Zeugenstand verlassen. Sein Auftritt bringt keine neuen Erkenntnisse zum Fall „Böhm“, wirft aber die Frage auf, ob ein fairer Prozess ohne Aufklärung der unerlaubten Wissensweitergabe möglich ist.

Termine bis Juni

Nach der Pause wird eine Email von der Polizeibeamtin, die als Nachbarin des Geschädigten Cedric S. nach dem Überfall auf ihn vor Ort war und erste Zeug/-innen aufgenommen hat, verlesen. Eine andere Nachbarin habe erzählt, dass sie kurz vor der Tat die Straße entlanggelaufen sei.

Dabei seien ihr zwei vermummte, männliche Personen aufgefallen. Einer der beiden, ein schätzungsweise 40-Jähriger mit langem dunkelblondem Bart, sei schon des Öfteren in der Wohngegend gewesen. Ein bisschen weiter die Straße hinauf sei sie auf eine Frau gestoßen, die ein Tuch bis unter die Augen gezogen hatte. Diese habe ihre Haare in einem braunen Longbob getragen und sei an die 1,80 Meter groß gewesen.

Am Ende des Prozesstages gibt Schlüter-Staats noch bekannt, dass weitere Termine bis Juni geplant seien und man sich dann den Saal „mit dem Verfahren gegen den Remmo-Clan“ wegen des gestohlenen Sachsen-Schatzes aus dem Grünen Gewölbe teilen müsse.

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