„Wer sind Sie? Sind Sie Zeuge?“ Der freundliche, aber durchdringende Blick von der Richterbank zielt direkt auf mich, Prozessbeteiligte und Angeklagte schauen unisono zu mir, ein etwas seltsames Gefühl. „Nein“, antworte ich, „ich bin Presse.“ Es ist eine Frage, die mir von der Richterbank schon des Öfteren gestellt wurde, gerade dann, wenn ich allein im Zuschauerraum war.

Denn ich bin, wie gesagt, Pressevertreter. Genauer: Gerichtsreporter. Quasi das Bindeglied zwischen der Gesellschaft und dem Gericht. Oder, wenn man so will, ein Vertreter jenes Volkes, in dessen Namen Richterinnen und Richter in Deutschland tagtäglich Recht sprechen, Angeklagte in Strafprozessen verurteilen oder ihnen, wenn es doch nicht reicht, den Freispruch verkünden. 

Ich sehe mich als Sachwalter der Öffentlichkeit, der eben diese herstellt, indem er über spannende Verfahren berichtet. Und Prozesse in diesem Land sind – mit ein paar Ausnahmen – immer öffentlich, richtigerweise. Aber nicht alle Interessierten haben die Option und Zeit, sich einen Prozess persönlich anzuschauen. Um sie trotzdem auf dem Laufenden zu halten, dazu sind die Gerichtsreporter da.

Der Strafprozess als Bohrinsel in die Gesellschaft

Diese Tätigkeit übe ich jetzt seit rund sieben Jahren aus und dass ich dazu kam, war wie so oft eher dem Zufall geschuldet als großer Planung. Mitte 2016 hatte mich ein erfahrener Kollege angefragt, ob mich das Arbeitsfeld Gerichtsberichte und mediale Prozessbegleitung interessieren würde. Ich sagte damals umgehend zu, nicht zuletzt, weil mich Themen wie Kriminalität, Verbrechen, Polizei, Aufklärungsarbeit und Bestrafung schon seit der Kindheit und Jugend fesseln. Irgendwie scheinen sich die Dinge manchmal doch ganz gut zu fügen.

Angeklagter im Gerichtssaal.
Ein Angeklagter im Gerichtssaal (Foto von 2019): Der Mann hatte seinen Kumpel so schwer verprügelt, dass er später in der Klinik starb. Eine Erklärung für das „Warum?“ konnte oder wollte der Täter nicht liefern, er selbst schien bestürzt, was er getan hatte. Er musste mehrere Jahre in Haft. Foto: Lucas Böhme

Und auch wenn ich selbst kein Polizist oder Anwalt geworden bin, wie es mir einst vorschwebte, bin ich durchaus nicht unzufrieden mit der Rolle des kritisch-distanzierten Beobachters, die dem Gerichtsjournalisten zukommt. Ich verfolge dabei die Gerichtsverhandlung, die sich ebenso um Bagatelldelikte wie aufsehenerregende Gewaltverbrechen drehen kann, um die interessierte Öffentlichkeit über den Verlauf, neueste Entwicklungen und den Ausgang des Prozesses zu informieren.

Gerichtsverhandlungen sind dabei für mich wie eine Art Bohrinsel in die Gesellschaft. Nicht selten wundert man sich, was hinter manch einer freundlich-bürgerlichen Fassade tatsächlich passiert, wie manche Menschen ticken, oder auch, welch tragische Lebensgeschichten zum Vorschein kommen.

Professionalität ist das A und O

Wie ich mit solcherlei Umständen gerade bei gravierenden Verbrechen wie Mord, Totschlag Kindesmissbrauch oder Vergewaltigung umgehen könnte und ob es mich sehr belasten würde, wurde ich im Freundes- und Bekanntenkreis mitunter schon gefragt. In der Regel ist das ehrlicherweise nicht so.

Erstens versuche ich immer, wie oben genannt, als Beobachter die professionelle Distanz zu wahren und einen Hebel im Kopf umzulegen. Ein erfahrener Strafrichter hat mir auf die Frage, wie er mutmaßlichen Gewalttätern sachlich begegnen kann, mal gesagt, er mache sich immer bewusst, dass man es mit einem Menschen zu tun habe. Auch, wenn es dadurch manchmal eher noch schwieriger wird, weil man sieht und erfährt, was Menschen unter Umständen in der Lage sind, anderen Menschen anzutun.

Mein Empfinden ist ähnlich. Ende 2021 lernte ich als Reporter eine Frau kennen, die vor vielen Jahren ihren Mann ermordet und dafür 15 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Es war für mich extrem beeindruckend, ihre Haftgeschichte zu erfahren, ich fand sie persönlich sehr sympathisch – und doch war mir immer bewusst, dass sie mit der Tötung eines Menschen ein abscheuliches, nie wieder gutzumachendes Verbrechen begangen hat. Dies betonte auch sie selbst immer wieder.

Der zweite Grund, warum ich das Erlebte meist gut verarbeite, ist die hohe Dynamik des medialen Tagesgeschäfts, die einen Reporter nach Ende der Verhandlung sofort dahingehend vereinnahmt, die neuesten Erlebnisse aus dem Gerichtssaal zeitnah auf einen verständlichen Text herunterzubrechen und zu veröffentlichen. Für mich hat dies mit Professionalität zu tun, was nicht mit Hartherzigkeit verwechselt werden sollte. Denn trotzdem bin und bleibe ich ein Mensch, und nicht alles lässt mich sofort wieder los.

Tötungsdelikte und Missbrauch

Fälle, die mir bei allem Abstand nahegingen, die man nie vergisst, gab es in den letzten Jahren durchaus. Um nur einige zu nennen: Eine alte Dame von über 80 Jahren, die aus Verzweiflung ihren schwer erkrankten Mann und sich selbst töten wollte. Beide überlebten, sie wurde wegen versuchten Mordes angeklagt, kam letztlich aber mit Bewährung davon.

Ein Missbrauchsfall, bei dem ein kleines Mädchen betroffen war, Täter war ein Bekannter seiner Mutter. Diese hatte von den Übergriffen gewusst – und nichts unternommen. Allein seine auffällige Aktivität im Internet ließ den Mann auffliegen. „Positiv“, wenn man es so nennen will, war nur, dass beide Angeklagte sofort gestanden und das Kind nicht extra aussagen musste. Der Peiniger bekam einige Jahre Haft – doch das Mädchen habe lebenslänglich, wurde treffend kommentiert.

Der brutale Mord an einer jungen Mutter im Leipziger Auwald durch ihren Ex-Freund im Frühjahr 2020. Eine unfassbare Tat, die ein Kind zurückließ, das ohne seine Mutter aufwächst, und dazu Angehörige des Opfers, die im Prozess hilflos erleben mussten, wie der Strafverteidiger des Angeklagten Belastungszeugen aggressiv unter Druck setzte.

Der Mann, der 2016 zwei Frauen in Leipzig ermordet und die Leichen zerstückelt hatte. Auch das bleibt mir bis heute im Gedächtnis.

Anfang des Jahres erlebte ich die Verurteilung einer Frau zu lebenslanger Haft mit, die ihr eigenes Baby, einen Jungen, kurz nach der Geburt ermordet und in einem Gefrierfach versteckt haben soll. Der Vorsitzende Richter lieferte eine nicht nur juristisch, sondern auch rhetorisch sehr scharfe Urteilsbegründung mit allen grausigen Details ab. Zu meinem Befinden nur so viel: Als ich das Landgericht verließ, hätte ich kein TV-Reporter sein wollen, der gleich einen sachliches Live-Statement vor der Kamera abliefert. Vor allem ein Austausch mit Familie oder Kolleginnen und Kollegen hilft dann enorm weiter.

Die Rolle des Reporters

Und ein Austausch findet ja auch mit Pressesprechern des Gerichts statt, oder am Rande von Prozessen mit Anklagevertretern oder Anwälten. Nicht alle, aber doch einige sprechen auch gern mit Journalisten, und gerade der (noch immer nicht vor Gericht verhandelte) Fall Gil Ofarim zeigt, wie manche Verteidiger offensiv auf Öffentlichkeitsarbeit setzen.

Das ist auch vollkommen in Ordnung, solange der Gerichtsreporter die angemessene Distanz zu allen Seiten wahrt. Denn es ist nicht sein Auftrag, einen Prozess – egal, wie die persönliche Haltung ausfällt – in irgendeine Richtung zu beeinflussen, sich vor einen Karren spannen zu lassen.

Das Credo, wonach sich Journalisten mit keiner Sache gemein machen dürften, auch nicht mit einer guten, hat hier vielleicht seine Berechtigung. Ja, ich weiß, dass dieser dem Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs (1927-1995) zugeschriebene Leitsatz ursprünglich etwas enger gefasst war und seine mantraartige Beschwörung heute auf die Eigendynamik zurückgeht, mit welcher der zusammenhanglos zitierte Spruch später seine Karriere beschritt – wie es eben häufig ist mit Zitaten.

Aber ich verstehe die Ansage weniger als Aufforderung zur (nicht existenten) absoluten Neutralität – sonst dürfte ein Journalist ja auch keine Glossen oder Kommentare verfassen – sondern er ist für mich die überspitzte Mahnung, die Grundsätze von ethischem Kodex, professioneller Distanz, Sorgfalt und Ausgewogenheit in der Berichterstattung zu beachten. Das gilt natürlich nicht nur bei Gerichtsjournalismus, aber hier ganz besonders, wo man permanent mit Kriminalität, Abgründen, Schmerz, Tod, Schicksalen, intimen Details und oft unvorstellbarem Leid konfrontiert ist.

Humor und Situationskomik gibt es auch vor Gericht

Fälle dieses Kalibers sind, auch wenn ich keine Statistik dazu führe, gefühlt in der Mehrzahl, auch wenn es natürlich – das ist vor Gericht nicht anders als sonst – Momente von Heiterkeit und Situationskomik gibt. Augenblicke, wo man einfach auch einmal lachen kann, sei es über zwei Richter, die leise kichernd miteinander tuscheln wie kleine Kinder, sei es über den flapsigen Spruch eines Kollegen. Dafür sind wir alle Menschen.

Aber meist ist es tatsächlich so, dass es bei den Taten, wie sie vor Gericht landen, nichts zu lachen gibt.

Das Spannende bei Gericht ist es, dass niemand vorher weiß, was der Tag genau bringen wird, wie eine Verhandlung verläuft, die manchmal dröge und langweilig sein kann, aber auch spannungsgeladen und mit brüllendem Schlagabtausch. Doch immer ist es die nüchterne Logik von Juristentum und Rechtsstaat, mit der einfachsten Vergehen wie auch furchtbarsten Verbrechen begegnet wird.

Im Zweifel für den Angeklagten

Ich habe in den Jahren als Beobachter bei Gericht einiges gelernt – vor allem, wie groß der Aufwand für einen Prozess sein kann, bei dem manchmal förmlich jedes Kieselsteinchen gedreht werden muss, um einen Sachverhalt zu beleuchten, inklusive ausführlicher Befragung, Zeugenaussagen und Gutachten.

Manchmal reicht es dann trotzdem nicht für eine Verurteilung und ein Angeklagter wird freigesprochen, wie im Fall des Neonazis, der 2015 am Angriff auf die Privatwohnung des damaligen Justizministers von Sachsen, Sebastian Gemkow, beteiligt gewesen sein soll. In der öffentlichen Wahrnehmung führt so etwas schnell zu Unverständnis.

Doch wenn die Beweise nicht reichen, kann im Rechtsstaat nur ein Freispruch herauskommen: „Im Zweifel für den Angeklagten“, so bitter es manchmal sein mag. Sonst träfe es auch diejenigen, bei denen die Zweifel darauf gründen, dass sie die Tat wirklich nicht begangen haben. „Lieber lasse ich einen Schuldigen laufen, als dass ich einen Unschuldigen einsperre“, sagte mir ein Richter mal. Ich verstehe, was er meint.

Ich sehe nicht nur Angeklagte und Tatorte

Spektakuläre Verfahren habe ich einige verfolgt über die Jahre, wobei ich nicht sagen könnte, welches mich besonders geprägt hat. Am ehesten vielleicht der entsetzliche Mord im Leipziger Auwald, weil die Verhandlung sich über 16 Monate zog, obwohl die Täterschaft des Angeklagten selbst von dessen Verteidigung nie bestritten wurde. Die Art und Weise, wie laut, respektlos und aggressiv diese Verteidigung im Verfahren auftrat, ist für mich bis heute ohne weiteres Beispiel.

Spurensicherung am Teich.
Ein Tatort der letzten Jahre: In einem Teich im Clara-Zetkin-Park wurde im August 2020 ein Verstorbener aufgefunden, welcher einem Verbrechen zum Opfer fiel. Bis heute ist der Fall ungeklärt. Foto: LZ

Gelegentlich träume ich auch nachts von Gerichtsprozessen, aber ich bin nicht an dem Punkt, wo ich überall auf der Straße nur noch Angeklagte und Tatorte sehen würde. Und ich werde weiter vor Gericht ziehen, um für die Leserinnen und Leser zu berichten.

Gerichtsreporter – das ist ein Auftrag, den ich auch künftig mit voller Überzeugung ausführe.

Der Artikel „Reflexionen über die Rolle eines Gerichtsreporters“ erschien erstmals am 31. März 2023 in der aktuellen Printausgabe 111 der Leipziger Zeitung (LZ) und letztmals in dieser Form.

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