„Alles ist Geschichte. Im Unterricht lernt Ihr, dass wichtige Ereignisse, prägende Entwicklungen, Prozesse und Personen zur Geschichte eines Landes gehören. Ja, auch wichtige Personen können die Entwicklung eines Landes, später ganzer Kontinente und Welten bestimmen. Ob uns das gefällt oder nicht. Der Lehrplan sagt uns, wer und was das im Einzelnen bedeutet. Aber, stimmt das auch? Im Einzelnen?“

Manchmal irritiert mich ein Gefühl, nach dem ich zweifle, ob ich wirklich den richtigen Beruf ergriffen habe. Manchmal frage ich mich, wie viel pathetischen und zugleich seelsorgerischen Gestus dieser Beruf erfordert. Und manchmal weiß ich hinterher nicht mehr, ob ich so etwas alles nur denke oder auch laut sagen (soll). Beginnende Altersdemenz, retardierendes Moment im sich verlangsamenden Selbstwahrnehmungsprozess oder …?

„Fragen Sie uns zu Wochenbeginn doch erst einmal, wie es uns so geht“, brummt mir Max entgegen und Elisabeth neben ihm nickt sportlich-herausfordernd dazu. Manchmal kommt mir die soziokulturelle oder was-weiß-ich-Kluft zwischen mir und den per Gesetz zu Bildungsempfängern Bestimmten wie eine Achterbahnfahrt aus „Ghostbusters“ vor. Sinnlos, unüberbrückbar, aber bewegt.
Was den intellektuellen Thermometer-Stand zu Wochenbeginn betrifft, müsste es eigentlich das „Liegende Klassenzimmer“ heißen, raunze ich zynisch in den Raum. Dies sei der kolportierte Titel eines Kinderbuches von Erich Kästner. „Wie heißt denn der richtige Titel?“ Bin mir nicht sicher, wem ich mich mit einem Vorwurf entgegenwerfen soll. Haltung, denke ich. Haltung behalten.

„Was wir an Ihrer Stelle alles gelesen haben sollen. Sie kannten das alles schon damals?“ Herausforderung Nummer 2. Geht ja wirklich sportlich los, die Woche. „Nein, ich kannte nicht mal die ‚Feuerzangenbowle‘.“ Zeit, die Diskussion zu versachlichen, an der administrativen Grenzbefestigung abzurüsten. Über Selbstverantwortung nachzudenken. Das sei auch besser so, stimmt mir Phil, ein Kursteilnehmer aus der hinteren Reihe eifrig zu. Manchmal hasse ich Streber, die zeigen mir immer die dunklen Seiten meines frühen Schülerdaseins. Diesmal hat er Recht.

„Trotz der Männer und Frauen, die einem Volk vorstehen, der Regierungen, die vom Volk gewählt werden, es aber dann auch dirigieren können – spätestens seit der Aufklärung muss uns bewusst sein, dass ein emanzipiertes Volk immer auch Verantwortung trägt für die Haltung, die es seiner Regierung und auch anderen Völkern entgegenbringt … Seid Ihr Euch darüber im Klaren?“ Das sei doch Dialektik, meint Phil mit Verweis auf den Philosophieunterricht. Leicht hämisches, leicht anerkennendes Gegeiere ringsum, mich im ernsthaften Zweifel zurücklassend. „Genau, Dialektik, so wie wir beide für guten Unterricht verantwortlich sind. Ihr und ich.“ Redest du dich gerade um Kopf und Kragen? Was soll’s, zu viel Nachdenken schadet jetzt dem Vordenken. Also weiter.

„In einen hohlen Kopf geht viel Wissen.“ Ich schreibe den provokativen Aphorismus des scharf denkenden Wiener Publizisten Karl Kraus an die Tafel. Was denn der Sinn des ganzen Satzes sei, frage ich. Verwunderung, Verwirrung, Ratlosigkeit allerseits. Eine Stunde Null in der ächzenden sächsischen Bildungsmaschinerie. „Kognitive Inkongruenz“ sagt die gegenwärtige Schulpädagogik, pardon, -methodik, schlaumeierhaft zu diesem Waterloo des Rational- und Verwertungsdenkens der heutigen realökonomischen Praxis. Nun gut, Stillstand erfordert Bewegung. Früher erging es den Menschen kaum besser. Oder doch? Anders vielleicht.

Was der Ausweg sei, werde ich gefragt. Immerhin. Oder glücklicherweise immer wieder. Das ist gut. Nicht einmal auf Elba gab Napoléon auf. Im Frühjahr 1815. „Ist es nicht ein Zeichen von Fatalismus, sich darauf zurückzuziehen, von den Regierenden getäuscht und betrogen worden zu sein? Von Verbrechen, welche auch immer ‚im Namen des Volkes‘ begangen wurden, nichts gewusst zu haben? Dies zu behaupten, wider besseren Gewissens?“

Denkfehler, unterbricht mich Phil. Soll ich mit einem Betragenseintrag drohen? Geht ja nicht, in der 11. Klasse. Wissen sei doch nicht Gewissen. Nein, Gewissen verlangt Haltung. Verantwortung für sich selbst, dann für andere. Wofür denn das? Frage an mich.

Immer diese … Nein, lasst sie fragen, lasst es zu, dass etwas in Bewegung kommt, was der … Wahrheit (?) dient. Scheinbar widersinnig, paradox, weil sie ja auch schmerzt, die Wahrheit, und wehtut. Im ersten Moment. Aber lässt man das nicht zu, dann tut sie später umso mehr weh, wächst sich aus wie mein unaufhaltsam kriechender Balkonknöterich, der kaum noch unter Wachstumskontrolle zu kriegen ist. Die falsche Haltung lässt richtige Sätze falsch werden, treffende Worte verletzen und bedrohen.

„Wir sind das Volk!“ – mein aktuelles Beispiel, daran denkend, als wir im Januar das erste Mal über die verdrehte Haltung der Pegida – Bewegung und deren demagogischen Losungen diskutierten, am Rande einer Demonstration in unserer Stadt. Hat es so etwas nicht schon immer gegeben, dass sich ein Volk von der Regierung distanziert, der sie vorher hoffnungsvoll das Vertrauen aussprach? „Könnt Ihr dafür ein historisches Beispiel nennen?“, frage ich sie, „worüber wir schon einmal im Geschichtsunterricht gesprochen haben.“

Hinten meldet sich Phil. Ich lasse ihn etwas warten. Es sollen sich mehr melden. „Hitler war’s!“ Wie? „Na, Hitler war’s! Das sagten viele Deutsche nach dem verlorenen Krieg. Sie übernahmen keine Eigenverantwortung. Das war alles ‚er‘, sie selbst wurden ‚betrogen‘.“

Manchmal bin ich für die Wiedereinführung sogenannter überfachlicher Zensuren. Aber dann sollte es auch Haltungsnoten geben.

Das Bildungsalphabet erschien in der LEIPZIGER ZEITUNG. Hier von A-Z an dieser Stelle zum Nachlesen auch für L-IZ.de-Leser mit freundlicher Genehmigung des Autors.

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