Wer eifrig mitgelesen hat im vergangenen Jahr, der weiß, dass wir hier dutzende Bücher zu Luther und Reformation besprochen haben. Der 500. Jahrestag des gern mystifizierten Lutherschen Thesenanschlags an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg gab zu allerlei Festen Anlass. Und zur Erneuerung vieler Irrtümer. Mindestens zwei Irrtümer sind noch immer lebendig: Sie sind wie Bretterwände, die den Blick verstellen.

Im Grunde benennt Mara Küpper beide in ihrem seltsamen Artikel auf „Spiegel Online“, der da betitelt ist: „500 Jahre Thesenanschlag. Warum feiern Protestanten den Reformationstag?“

Der erste Irrtum steckt schon im Titel: dass nur Protestanten diesen Tag feiern.

Ich sag es mal so: Als protestgewohnter Atheist feiere ich ihn auch. Mit Reformationsbrötchen, jeder Menge Kaffee und dem Wissen darum, dass das, was Luther mit seinen bissigen Thesen auslöste, nicht nur die Kirche veränderte. Was ich übrigens an dieser Stelle demnächst noch ein bisschen ausfeile, wenn ich das dicke Buch zum 30-jährigen Krieg durch habe, zu dem Lara Küpper in ihrem so leichthin geschriebenen Artikel schreibt: „Die konfessionellen Gegensätze führten letztlich zusammen mit politischen Ursachen zum Dreißigjähren Krieg (1618-1648), der ganz Europa in die Katastrophe stürzte.

Womit sie zumindest den zweiten Irrtum zumindest streift: Luthers Anstoß hat ganz Europa verändert. Und zwar grundlegend und für immer. Denn er hat mehr bewirkt, als er wollte. Wer mag, kann das in seinen eigenen Schriften nachlesen. Er war zeitweilig regelrecht entsetzt und gelähmt von dem, was er ausgelöst hat.

Ich glaube, die Stelle, an der er nicht weitergedacht hat (wer rechnet denn mit so etwas?) ist genau zu benennen: Denn es ging ihm nicht nur um die Missstände des Ablasshandels, wie Mara Küpper schreibt, auch nicht beim Thesenanschlag. Wer die Thesen liest, merkt, dass es ihm schon um die ganze Rechtfertigungslehre ging. Auch wenn er den Papst noch schonte, sagte er ihm dennoch recht unverblümt: Die Kirche kann den Menschen nicht freisprechen von seiner Sünde.

Das mit der Sünde finde ich zwar Quatsch.

Aber es ist doch ein Kern darin, gerade wenn man Luther so konsequent weiterdenkt, wie es sich der Theologieprofessor aus Wittenberg selten genug traute: Der Mensch kann sich von seiner Verantwortung nicht freikaufen. Nicht durch Gebete, nicht durch Buße, nicht durch Geld, nicht durch gute Taten. Im Grunde hat Luther in den 95 Thesen mit nettem Latein formuliert: Lieber Leo X. alias Giovanni de’ Medici, hör auf, die Leute zu verarschen. Du kannst sie nicht durch Ablassbriefe vom Fegefeuer erlösen.

Dabei wollte Leo ja nur den superprächtigen Petersdom weiterbauen. Dass er dazu aber die Gläubigen in Angst und Schrecken versetzte und zum Hergeben ihres letzten Groschens drängte, das war natürlich zu viel.

Aber wie gesagt: Luther war schon ein Stück weiter. Davon erzählen ja Joachim Köhlers Buch „Luther!“ und der Luther-Film mit Joseph Fiennes. Er suchte einen Weg, wie der Mensch sich vor Gott rechtfertigen konnte und wie er vor diesem (damals streng und fürchterlich ausgemalten) Gott Gnade finden konnte. Das war seine Suche nach dem gnädigen Gott.

Und die Lösung fand er in der Bibel, eine Paulus-Stelle machte ihn regelrecht glücklich. Denn danach waren dem Christenmenschen seine Sünden schon längst vergeben. Er lebte schon deshalb in Gnade, weil er glaubte. Der Glaube allein zählte.

Was immerhin ein Fortschritt war.

Denn wer den Gedanken weiterdenkt, der landet dennoch bei der Frage: Bringt dieses neue Verhältnis zu Gott nun Verpflichtungen mit sich oder nicht? Wenn denn schon Gnadenwerke nicht helfen, sich bei Gott freizukaufen.

Reicht „sola fide“? Nein, sagte Luther: Man braucht auch einen Maßstab. Und der steckt in der Bibel. Das ist die Richtschnur für ein gottgerechtes Leben.

Wie jeder weiß, ist die Bibel nur bedingt ein guter Wegweiser. Es steht auch viel Brutales, Fürchterliches und Verkorkstes drin. Man muss schon gewaltig filtern, um den humanistischen Kern zu finden. Aber in Wirklichkeit hat Luther noch ein anderes „sola“ definiert, obwohl er das gar nicht sollte. Das war in Worms 1521, als der Kaiser persönlich ihn aufforderte, von seinen Schriften abzuschwören. Und Luther erst zögerte und dann – zitternd wie Espenlaub – vor diesen Kaiser trat und (wenn auch nicht mit diesen Worten) sagte: Ich kann nicht. Ich kann nicht anders.

Das war sein zweiter Thesenanschlag. Denn das schuf nicht nur die Grundlage für das spätere Auftreten der protestierenden Fürsten und das Aufflammen reformatorischer Bewegungen in ganz Europa – von Skandinavien bis England, vom päpstischen Italien bis Frankreich und in die Niederlande. Luther hatte nicht nur mit einem einzigen Bekenntnis den Papst, sein Konzil und die ganze Kirche hinausgeschmissen aus der Beziehung zu Gott. Er hatte auch an einem Ort, an dem das alle Welt mitbekommen musste, gesagt, dass jeder Mensch selbst in Verantwortung steht vor Gott.

Es steckt genau in diesem Spruch, den Luthers Freunde später auf „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!“ eindampften:

„… wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!“

Lesen Sie es ruhig noch einmal: Papst und Konzilien hat er ihre Deutungshoheit einfach abgesprochen (was etliche Medien bis heute nicht begriffen haben in ihrer Papst-Verherrlichung) und zwei neue Maßstäbe gesetzt, die seit damals gelten (die aber nicht mal „Spiegel online“ in ihrer Auswirkung begriffen hat):

„Klare Vernunftgründe“ und „das Gewissen“.

Das verweist schon – auch wenn es der verängstigte Mönch, dem ja wirklich der Scheiterhaufen drohte, nicht geahnt haben sollte – auf Kants Definition der Aufklärung.

Wer’s noch mal schriftlich will:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Wie gersagt: Das wollte Luther womöglich nicht. Deswegen war er mit vielem, was nach 1521 kam, völlig überfordert. Vor allem mit der unüberschaubaren Vielfalt protestantischer Strömungen, die auf einmal entstanden, weil eine Menge Leute es auf einmal wagten, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen.

Das war der eigentlich zündende Gedanke, der in Europa nicht nur eine Reform auslöste, sondern eine Vielzahl von veränderten Weltsichten, die nicht nur das Verhältnis zur Religion radikal (und unumkehrbar) veränderten, sondern auch das Verhältnis zur Wissenschaft und zur Politik. Mühsam versuchte Luther das alte, starre Feudalmodell zu retten mit seiner Zwei-Regimente-Lehre. Kaum hatte er seine Lehre verkündet, musste er sie verteidigen und flicken.

Deswegen führt auch das Wort Reformation eigentlich auf den Holzweg, weil es die Veränderung (Wiederherstellung) nur auf die Kirche bezieht – und dabei völlig ausblendet, wie sehr Luthers kleine, tapfere Gedanken tatsächlich ganz Europa aus der Erstarrung lösten und eine Entwicklung in Gang brachten, die zwangsläufig ein neues, nicht mehr schrift-gläubiges Denken hervorbringen musste. Nicht wegen der Bibel, die Luther so herrlich übersetzte, sondern wegen Worms: „klare Vernunftgründe“.

Und sie mussten neue politische Akteure auf den Plan rufen. Was ja schon zu Luthers Zeit sichtbar wurde: Die später protestierenden Fürsten wurden selbstbewusster und begannen, auch das Heilige Römische Reich neu zu denken. Meistens sehr egoistisch und in alten Macht-Vorstellungen. Aber das ist der eigentliche Grund dafür, dass es 100 Jahre später zum Dreißigjährigen Krieg kam. Es waren nicht – wie Mara Küpper meint – die „konfessionellen Gegensätze“, die „zusammen mit politischen Ursachen zum Dreißigjähren Krieg“ führten. Luther hat auch etwas bewirkt, was Kirchenfürsten bis heute nicht begriffen haben: Religion hörte auf, eine verbindende Glaubenssache zu sein, sondern wurde zu einer politischen Haltung. Die man an- und ablegen konnte. Die man aber auch benutzen konnte als Treueversprechen.

Man legte sich – der Karriere, der Geländegewinne, der Bündnispflichten oder des pragmatischen Opportunismus wegen – den jeweils opportunen Glauben zu. Was übrigens schon den Zeitgenossen erhebliche Kopfschmerzen bereitete: Wie konnte man dabei überhaupt noch wissen, welches nun der richtige Glaube war in den Augen Gottes? Usw.

Da wird es ganz verfitzt.

Und deswegen belassen wir es hier dabei.

Erwähnt sei nur noch, dass auch Luthers Suche nach einem gnädigen Gott nachwirkte und ebenso gewaltige Veränderungen bewirkte. Denn dahinter steckt die Frage: Braucht es eine Erziehung, die dem Menschen ein strafendes Über-Ich einimpft, an dem er kaputtgeht? Oder braucht es irgendwann nicht auch die Emanzipation des Menschen vom zürnenden Strafregime der emotional geschädigten Väter?

Ich sage jetzt mal nicht, dass auch die Emanzipation der Frau schon bei Luther zu finden ist (wobei die Rolle Katharina von Boras sehr wohl interessant ist). Aber die überfällige Emanzipation des Menschen schon. Aber da stecken wir noch mittendrin. Sonst hätte es diese introvertierten Kirchentage und Jubiläumsfeiern nicht gegeben.

Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie

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