Welch ein Augen- und Gaumenschmaus: Eierschecke, Schwarzwälder Kirsch, Zupfkuchen, Bananen-Haferflocken-Kuchen. Viele Mitbewohner*innen im Genossenschafts-Haus in der Fichtestraße haben Kuchen gebacken für Oma Ursula. Die 73-Jährige genießt den Trubel an ihrem Geburtstag. Die Kinder und Enkel haben sich aus Borna und Bolivien per Swatch gemeldet. Die Freundinnen aus der Kirchgemeinde wollen den 3-D-Drucker-Rosenkranz eigentlich lieber selber behalten. Rabia, Talibe und Harun bezaubern auch mit dem Zitronenkuchen nach syrischem Rezept.

Und dann stehen Paul und Nada aus dem vierten Stock vor der Tür. Sie drücken das Geburtstagskind, ziehen die Pantoffeln an und setzen sich auf die Couch.

Die frühere Immobilienbesitzerin Ursula hatte den Immobilien-Azubi und die HTWK-Architektur-Studentin beim 2017er-Straßenfest kennengelernt. Vierzehn Kaffeekränzchen später war sich Ursula sicher, dass sie mitmischt bei „LWA“. Das übersetzte der politisch gern inkorrekte Cousin gerne mit „Leipziger Wohnwahnsinn allerorten“, was sprachlich aufreizender klang als „Leipzig wohnt anders“.

Ursula also mittendrin zwischen älter werdenden Immobilienbesitzern, Studierenden der HTWK, Handwerker*innen, Geflüchteten, Immobilienfirmen-Azubis, Architekt*innen und jungen Wohnungslosen, die zu „LWA“ gekommen waren, wie die Jungfrau Maria zum Jesuskind.

Zum 1010-jährigen Stadtjubiläum hatten sich 1.010 wohlhabende Bürgerinnen und Bürger der Stadt Leipzig mit einer Swatch-Anzeige gemeldet: „Wir suchen 110 junge und alte Leute für ‚Leipzig wohnt anders‘. Es geht um eine Vision, wie Häuser dem Wohl von allen dienen. Vielleicht so eine Art ‚Allmende‘ für Häuser. Jede/r von uns gibt 100.000 € dafür.“

Immer wieder debattierte Ursula mit Nada und Paul, wie man denn mit „LWA“ beginnen könne. Einig waren sich alle drei, dass sie das Wohl von Menschen im Herzen hatten, denen es schwerfällt, in der Fichtestraße preiswert leben zu können. Und so nahmen sich Ursula, Paul und Nada bei Eierschecke und Schwärzwälder Kirschtorte ihre Mitbewohner*innen zu Herzen.

Paul erlebte in seiner WG täglich, wie erleichtert Amir nach seinem Auszug aus der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete war. Und Nada konnte Fatima gut verstehen, die als praktizierende Muslimin auffällig selten zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen wurde. Ob der Abteilungsleiter von Porsche aus dem dritten Stock wohl wusste, dass die Alleinerziehende von gegenüber früher fast die Hälfte ihres Einkommens für das Wohnen ausgegeben hatte?

Früh, beim Rauchen im Hof, waren sich der 20-jährige Ronny mit Abgangszeugnis Klasse 8 und die EU-Rentnerin Roswitha einig, dass der Neubau nebenan unbezahlbar für sie beide wäre. „Und das mit dem Fahrstuhl stärkt Helga und Werner dabei, mit Rollator und Rollstuhl in der Nachbarschaft aktiv und präsent zu bleiben.“

Wer hat eigentlich den Startschuss für „LWA“ gegeben, fragt Nada beim abschließenden, veganen Bananen-Haferflocken-Kuchen?

Und die Lottospielerin Ursula grinst verschmitzt.

Alle Träume, welch bereits veröffentlicht sind, finden Sie ab sofort hier in steigender Anzahl unter dem Tag l-iz.de/tag/traeume.

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