Augenscheinlich lag so mancher falsch, der den Aufstieg der AfD in Deutschland mit den Abstiegsängsten der Mittelschicht in Verbindung brachte. Denn statt zuzunehmen, sinken die Abstiegsängste. Die Wirtschaft läuft stabil. Und trotzdem ist da das Rätsel: Warum wählen dann gerade viele Wähler der bürgerlichen Mittelschicht ausgerechnet AfD? Eine Frage, die der Leipziger Soziologe Prof. Dr. Holger Lengfeld morgen in München thematisiert.

Aber wird die AfD nicht immer wieder als eine Protestpartei verkauft, die von den Abstiegsängsten der Menschen profitiert? Augenscheinlich wird sie nicht deshalb gewählt.

Denn Abstiegsangst ist offenbar in der Mittelschicht kein großes Thema mehr. Von Beginn der 1990er bis Mitte der 2000er Jahre wuchs die Gruppe der Menschen, die sich vor dem Verlust ihres Wohlstands sorgten.

„Seither aber hat sich der Trend umgekehrt. Besonders die Mittelschicht schaut mittlerweile so optimistisch in die Zukunft wie schon seit 1991 nicht mehr. Abstiegsangst war gestern“, sagt der Soziologe Prof. Dr. Holger Lengfeld von der Universität Leipzig. Mit diesem Thema beschäftigt sich am 4. April sein Leitvortrag auf dem 1. Kongress der neu gegründeten Akademie für Soziologie in München.

Lengfeld analysiert darin die bisherige Forschung zur Lage der Mittelschicht in Deutschland. Seit zehn Jahren werde diese in Wissenschaft und Öffentlichkeit diskutiert. Einige Beobachter zeichneten dabei ein düsteres Bild: Die Mittelschicht schrumpfe, sie fühle sich vom sozialen Abstieg bedroht und wähle die Alternative für Deutschland (AfD). Nicht zuletzt der gescheiterte SPD-Spitzenkandidat Martin Schulz habe diese Einschätzung im Bundeswahlkampf 2017 geteilt und gefordert, man müsse sich den Abstiegsängsten der Menschen wieder mehr annehmen.

Tatsächlich habe sich jedoch die Mittelschicht wirtschaftlich und emotional stabilisiert. Dazu hätten auch das anhaltende Wirtschaftswachstum und mehr Beschäftigung beigetragen.

„Dennoch ist der zuletzt starke Rückgang der Abstiegsängste der Wissenschaft ein Rätsel, das noch nicht gelöst wurde. Denn die Risiken, die einen Abstieg auslösen können, sind ja nicht verschwunden, wie etwa die befristeten Verträge, die die SPD so energisch bekämpfen will. Möglicherweise hat die Mittelschicht aber über die Jahre gelernt, mit Unsicherheiten besser umzugehen. Sie hat sich arrangiert, und das senkt die empfundene Unsicherheit“, erklärt der Soziologie-Professor.

In seinem Vortrag weist Lengfeld auch darauf hin, dass Abstiegsängste die Menschen bei Wahlen kaum dazu bringen, ihr Kreuz bei der AfD zu machen. Dies sei vereinzelt der Fall, aber weder für die breite Masse der Bevölkerung noch für die Mittelschicht habe die Forschung Belege für einen starken Zusammenhang gefunden.

Und damit wird eigentlich klarer, was die AfD gerade für den Mittelstand so attraktiv macht: Sie bedient seine Vorurteile.

„Offenbar nehmen die Bürger die AfD genauso wahr wie sie sich öffentlich präsentiert: als europaskeptische Partei, die die nationale Kultur und traditionelle Lebensformen hochhält und Flüchtlingszuwanderung stoppen will, die aber keine Kompetenz im Bereich Arbeitsmarkt und Soziales hat“, erläutert der Soziologe.

Oder mal zugespitzt formuliert: Europafeindlichkeit, Nationalismus, ein bisschen Menschenfeindlichkeit und die Moralvorstellungen der Adenauer-Zeit. Und sozial inkompetent.

Prof. Dr. Lengfeld hält seinen Vortrag am 4. April 2018 in der Zeit von 17 bis 18 Uhr. Der Kongress zum Thema „Wachsende Ungleichheit – gespaltene Gesellschaft?“ findet in den Räumen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München-Nymphenburg statt.

Ist die AfD eine Partei für wütende junge ostdeutsche Männer oder steckt mehr dahinter?

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