Werden sich Linke und SPD jetzt darüber zerstreiten, ob das ostdeutsche Dilemma nun an der Treuhand liegt oder nicht? Auf eine Forderung der Linkspartei für einen weiteren Untersuchungsausschuss zur Treuhand reagiert jetzt Martin Dulig, Ostbeauftragter der SPD und Vorsitzender der SPD Sachsen. In einem Punkt stimmt er der Linken sogar zu: „Wir brauchen eine Aufarbeitung der Nachwendezeit.“

„Wir sind es den Millionen Menschen schuldig, deren Leben sich in der Wendezeit dramatisch verändert hat. Ob uns dabei der nun dritte Treuhanduntersuchungsausschuss im Bundestag entscheidend weiterbringt, bezweifle ich“, sagte der Landesvorsitzende der sächsischen SPD am Dienstag, 23. April. „Im Gegenteil: Ich sehe eher die Gefahr, dass man dort nur alte Feindbilder pflegen und sich Schuldzuweisungen um die Ohren hauen würde. Das bringt uns heute im Jahr 2019 als Gesellschaft nicht weiter“.

Dulig forderte, über die Aufarbeitung anders nachzudenken: „Es braucht eine Aufarbeitung, auch der Treuhand, anhand der nun freigegebenen Akten und der Einbeziehung von Zeitzeugen. Dazu müssen wir aber Wege und Instrumente suchen, die sowohl das Schiefgelaufene als auch das Erfolgreiche in jenem historischen Umbruch verstehen helfen und die Chance bieten, diese öffentlich zu diskutieren, zu benennen und zu verstehen. Wir brauchen eine differenzierte Beschreibung der damaligen Wirklichkeit! Und dazu brauchen wir auch die differenzierte Dokumentation der vielen tausend Einzelerfahrungen der Bürgerinnen und Bürger, wie sie auch Petra Köpping bereits in ihrem Buch gefordert hat.

Nur damit könne die damalige Umbruchszeit deutlich werden, wie sie war: „widersprüchlich, kompliziert, voller schwieriger Entscheidungen“, versucht Martin Dulig die Anfänge des Dilemmas zu umreißen.

Dazu brauche es schließlich auch Wege und Instrumente, um jene differenzierten Erfahrungen der Bevölkerung und auch unterschiedliche Sichtweisen der Forschung öffentlich zu dokumentieren, so Dulig. „Wir brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte, am besten moderiert durch eine Kommission. Eine Aufarbeitung darf nicht in einer zehnbändigen Edition zur Nachwendezeit enden. Es geht um eine in die Zukunft gerichtete Diskussion im ganzen Land, mit einer Vielzahl an lokalen Aktionen und Formaten der Aufarbeitung in Ost und West.“

Die Feierlichkeiten zur Deutschen Einheit böten hier eine erste Chance für eine ehrliche Debatte. Diese müsste auch ergriffen werden.

Blühende Landschaften ohne Treuhand?

Wobei Dulig eigentlich schon weiter ist. Denn selbst wenn man noch einmal alle Fehler der Treuhandanstalt aufarbeitet, kann man die Wucht dieses Transformationsprozesses nicht ausblenden, eine Wucht, die übrigens auch alle osteuropäischen Staaten nach 1990 durchmachten, fast alle mit „freundlicher“ Beratung von Wirtschaftsexperten aus dem Westen, die überall eine „Schocktherapie“ nach neoliberalem Muster verordneten.

Ein Vorgang, der in deutschen Politiksendungen fast komplett ausgeblendet wurde, den aber Philipp Ther in seinem preisgekrönten Buch Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa sehr eindringlich schildert.

In Ostdeutschland stand dieser Transformationsprozess einer völlig überalterten Gesamtwirtschaft auch noch unter zusätzlichem Druck, denn mit Einführung der D-Mark im August 1990 verloren nicht nur sämtliche exportorientierten Betriebe im Osten ihre Absatzmärkte, selbst der Inlandsmarkt ging für die meisten Betriebe über Nacht verloren und das Kapital, sich quasi im Schweinsgalopp an einen gnadenlosen Markt anzupassen, hatte kaum ein Unternehmen.

Der Hauptfehler war wohl eher, das Thema unter der Überschrift „Blühende Landschaften“ einfach zu ignorieren, den Bürgern in der ganzen Bundesrepublik den Eindruck zu geben, die „Deutsche Einheit“ wäre quasi aus der Portokasse zu bezahlen und der Osten würde im Handumdrehen nicht nur denselben Wohlstand, sondern auch dieselbe Wettbewerbsfähigkeit bekommen.

Das Ergebnis: Katzenjammer auf beiden Seiten – bei denen, die im Westen daheim glaubten, im Osten würde jetzt ein Wunder geschehen, und bei den Ostdeutschen, die die Ochsentour auf sich nahmen, denn nichts anderes ist es, wenn eine komplette Wirtschaft in derart kurzer Zeit völlig erneuert wird. Mit den „Kollateralschäden“ scheinen die wichtigsten Politiker jedenfalls nicht gerechnet zu haben – angefangen mit der Tatsache, dass so ein Umbauprozess tief einschneidet in die Erwerbsbiografien der Betroffenen, in Lebensplanungen und selbst die simpelsten demografischen Grundlagen. Denn das Schlimmste, was dem Osten passierte, war nicht das Abwracken der alten Industrie, sondern die Abwanderung von Millionen gut ausgebildeter junger Arbeitskräfte und der folgende Einbruch der Geburtenzahlen.

Tatsächlich stimmt, dass trotzdem eine Aufbauleistung erbracht wurde, auf die alle Beteiligten stolz sein könnten – wären da nicht die vielen auch psychischen Folgen des Ganzen samt entvölkerter Landstriche, fehlender Jugend, Überalterung und um sich greifender existenzieller Befürchtungen, denn Millionen Ostdeutsche haben sich durch jahrelange prekäre Beschäftigung gekämpft und verfügen bis heute über kein Vermögen.

Experimentierfeld Ostdeutschland

Deutschland hat also ein nicht gerade kleines Wirtschaftsgebiet zum Experimentierfeld gemacht – teilweise mit rigorosen neoliberalen Reformen, zu denen auch die gerade im Osten mit Wucht spürbaren „Hartz“-Reformen gehören, hat aber sichtlich keinen Weg gefunden, damit mental und medial umzugehen. Im Gegenteil: Der Großteil der Ostdeutschen hat – noch immer oder wieder – das Gefühl, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, was ja auch der letzte „Sachsen-Report“ bestätigte, also nicht wirklich akzeptiert und auch nicht gleichwertig repräsentiert zu sein.

Das heißt: Die Probleme liegen nicht wirklich in der Vergangenheit, sondern im Jetzt.

Und Dulig hat recht, wenn er eine weitere Treuhand-Aufarbeitung am politischen Tisch nicht für zielführend hält. Es muss geklärt werden, was heute strukturell falsch ist und geändert werden muss.

„Doch langfristig befürworten wir als SPD die Errichtung eines Zukunftszentrums Ost zur Deutschen Einheit. Dieses Zentrum soll in einer mittelgroßen Stadt in Ostdeutschland angesiedelt werden, an dem ost- und westdeutsche Erfahrungen und Lebensbiographien gesammelt, Forschung, Dokumentation und Kultur stattfindet und eine differenzierte Darstellung des Einigungsprozesses präsentiert werden kann“, sagt Dulig. „Wir wollen eine differenzierte Debatte. Danach können wir immer noch darüber reden, ob wir noch einmal einen Untersuchungsausschuss einsetzen müssen.“

Denn zum Gefühl der Ungleichheit gehören mittlerweile viele Entwicklungen, die für Enttäuschung, Frust oder auch Wut sorgen. Das reicht von den mageren Rentenerwartungen über das Gefühl, politisch nicht auf Augenhöhe vertreten zu sein, bis hin zum tatsächlichen Gefühl, abgehängt zu sein, weil Bahnstrecken, Schulen und identitätsstiftende Unternehmen geschlossen wurden, die tollen Jobs nur noch in den Großstädten entstehen und sich das, was mal lebendige Heimat war, in permanenter Auflösung zu befinden scheint.

Übrigens alles Phänomene, die mittlerweile auch strukturschwache Regionen im Westen erleben. Und das hat eindeutig mit der Konsequenz der heutigen Marktwirtschaft zu tun. Darüber sollte man reden, wenn es nicht ein ganzes Land zerlegen soll, in dem Menschen das Gefühl verlieren, gebraucht und respektiert zu werden.

Die Serie „Nachdenken über…“

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