Soziale Arbeit kann nur bedingt nach Kennzahlen, Indikatoren oder Produktivität bewertet werden. Die Wirkung zeigt sich an der Qualität unserer Gesellschaft und ihrer Werte. Wie sähe die denn ohne Soziale Arbeit aus?

Das Zitat, welches wir aus dem Talmud entnommen haben, weist darauf hin, dass wir jedes Leben schätzen sollten und nicht davon ausgehen können, dass ein Leben wichtiger ist als ein anderes. Auch unser Verständnis von Wohlfahrtswesen hat seinen Ursprung im Talmud. Diese menschliche Übereinkunft, dass Hilfe und Solidarität wichtig sind, setzt sich in der Sozialen Arbeit fort.

Soziale Arbeit ist eine Frage der moralischen Haltung und Soziale Arbeit ist eine Menschenrechtsprofession. Die Menschenwürde ist der „Wert“ der allen Menschen gleichermaßen zugeschrieben wird und zugleich nach dem Verständnis des Grundgesetzes ein Rechtsanspruch, den wir versuchen durchzusetzen.

Leider werden Menschen, die Hilfe brauchen, oftmals als Empfänger*innen einer besonderen Behandlung gesehen. Mit dem Einzug von kapitalistischer Logik und Management in die Soziale Arbeit wurden genaue Zielplanungen, die Beherrschung eines vorgegebenen Ablaufes und die messbare Bestimmung der Wirkungen abverlangt. Sozialarbeitende werden zunehmend als Dienstleistende gesehen, die ein genau steuerbares Ergebnis wie zum Beispiel eine Verhaltensänderung abzuliefern haben.

Doch die spezifische Lebenslage eines Individuums und die Selbstbestimmung droht dabei in den Hintergrund zu geraten, wenn Soziale Arbeit nur noch als Kostenfaktor gesehen wird. Dabei ist die große Kunst der Sozialen Arbeit das Umgehen mit Ambivalenzen, das Erkennen der vielfältigen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen und das geschickte Erkennen und Nutzen von Gelegenheiten.

Gerade weil andere Systeme – wie zum Beispiel das Schulsystem mit seinem Leistungsdruck und technischen Erfolgsscodes – exkludieren, ist Soziale Arbeit umso wichtiger. Wir versuchen, durch Öffnung und Vernetzung Impulse zu setzten und alternative Erfolgslogiken zu integrieren. So ist akzeptierende Drogenarbeit wohl für die meisten Menschen schwer nachvollziehbar. Warum Menschen retten, die sich selbst so kaputt machen?

Dabei hat sich gezeigt, dass beispielsweise das Installieren von Konsumräumen für Heroinabhängige den Menschen ein Mindestmaß an Würde zurückgibt und Leben rettet. Solche Räumen erleichtern Sozialarbeiter*innen den Zugang zu dieser schwer erreichbaren Zielgruppe. Wir haben dadurch die Möglichkeit, über den Substanzgebrauch aufzuklären, frische Spritzen auszugeben und an therapeutische Hilfeeinrichtungen zu vermitteln.

Gerade durch mehrfache Nutzung von Spritzen und Konsument*innen, die sich Spritzen teilen, können schwere Infektionen entstehen, die im schlimmsten Fall zu einer Amputation führen. Wenn wir die Möglichkeit haben zu helfen, dann sollte es auch unsere moralische Pflicht sein. Jedes einzelne gerettete Leben ist es wert und rechtfertigt die Arbeit. Zudem wird die Straße – der öffentliche Raum – sicherer, wenn auf Bahnhofstoiletten oder in Büschen öffentlicher Parks keine benutzten Spritzen mehr herumliegen, was auch wieder im Interesse der Gesellschaft liegt.

Ein anderes Beispiel, warum vermeintlich abgehängte Menschen nicht vergessen werden sollten, sind sogenannte Problemviertel wie Grünau. Solche Viertel weisen eine besondere Bedeutung als „melting pot“ auf. Ein Ort, an dem verschiedene Kulturen und soziale Schichten aufeinandertreffen, versuchen miteinander auszukommen und voneinander zu lernen. Gerade die verschiedenen Einrichtungen der Jugendhilfe und der Bildungsarbeit nehmen dabei eine besondere Rolle als Experimentierraum für zukünftiges gesellschaftliches Zusammenleben ein.

Es ist völlig klar, dass dies zu Reibungen und Konflikten führt. Das Akzeptieren dieses Prozesses und im nächsten Schritt die Auflösung der Reibungen, die aus dem Verständnis des jeweils Anderen resultieren können, sind das, was eine demokratische Gesellschaft ausmacht und voranbringt. Ein selektiver Blick auf die Probleme (von Menschen, die nicht in die Norm passen) ist nicht nur ein verstellter Blick, sondern behindert auch eine positive Weiterentwicklung.

Wenn es keine Soziale Arbeit gäbe, wäre das eine traurige Welt, in der Potenziale unentdeckt blieben, Menschen nicht gefördert würden zu sich selbst zu finden und ihre Interessen zu entdecken. Am Beispiel von Grünau wäre dies ein Ort, an dem ordnungs- und sicherheitspolitische Maßnahmen dominierten und dadurch jeden einzelnen Menschen, der hier seinen Wohnort hat, pauschal kriminalisieren würde. Lasst uns also lieber gemeinsam an die Menschen glauben und versuchen, Gutes zu tun. Es ist unsere Welt, und die Aufgaben betreffen uns alle.

Quellen:
Früchtel, Frank/ Budde, Wolfgang/ Herweg, Oliver: Die Entdeckung der Wirksamkeit. Von der technologischen zur sozialarbeiterischen Rationalität, In: Sozialmagazin, 1/2010, Seite 28-38.

https://www.juedische-allgemeine.de/religion/wer-ein-menschenleben-rettet/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2019 um 17:05 Uhr.

https://www.talmud.de/tlmd/von-naechstenliebe-und-wohltaetigkeit-im-judentum/, zuletzt aufgerufen am 14.11.2019 um 17:05 Uhr.

https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenw%C3%Bcrde, zuletzt aufgerufen am 14.11.2019 um 17:05 Uhr.

Infos zur Thesen-Aktion: Anlässlich seines 25-jährigen Bestehens hat der Mobile Jugendarbeit Leipzig e.V. einen Kalender mit 25 Thesen aus der Praxis zusammengestellt. Diese beziehen sich auf aktuelle Gegebenheiten und Entwicklungen in Gesellschaft und Jugendarbeit, auf die die Streetworker des Vereins in ihrer täglichen Arbeit stoßen. Die Thesen sollen zum Nachdenken und zur Diskussion anregen – und im Idealfall den Anstoß für einen Veränderungsprozess geben.

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