Seit nunmehr knapp drei Wochen ist das öffentliche Leben, wie wir es kennen, massiv eingeschränkt. Die Krise ist für alle eine Belastung - auf dem einen oder anderen Wege. Isolation und fehlender sozialer Kontakt werden zur Belastungsprobe für die Psyche vieler Menschen. In den Krankenhäusern und Kliniken sieht man sich vor ganz anderen Herausforderungen. Unter welchem Druck stehen Ärzte und Pfleger/-innen? Wir haben mit Prof. Dr. med. Katarina Stengler, Chefärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Helios Parkklinikum Leipzig, gesprochen.

In Krankenhäusern und Kliniken bereitet man sich auf eine „Erkrankungswelle“ vor. Wie ist die momentane Situation intern?

Wir sind natürlich schon in einem Krisenmodus. Auch, wenn wir derzeit nicht hundert Corona-Patienten betreuen, aber in der Vorbereitung. Was ja grundsätzlich auch medial transportiert ist: „Wir sind hier, tragt ihr euren Teil bei.“ Dieser Wunsch, dass die Menschen zu Hause bleiben und sich an die Maßnahmen halten. Und das ist auch so. Natürlich kommt dann auch Unverständnis oder Ärger auf, wenn einige dies nicht tun und man sich auf anderer Seite in einer belastenden Situation befindet.

Auf der anderen Seite sind die meisten natürlich daran gewöhnt, mit Krisen und Ausnahmesituationen umzugehen. Und auch in der Notwendigkeit auf den persönlichen Krisenmodus zu schalten. Ich glaube, die breite Bevölkerung kann sich auf das verlassen, was intern in den Krankenhäusern passiert. Das ist eine wichtige Botschaft.

Natürlich gibt es auch die Sorge „Was kommt da auf uns zu – hier in Leipzig, in Sachsen?“ Das ist wie eine Welle, die näher kommt von dort, wo schon viele Menschen erkrankt und auch verstorben sind. Reichen die Kapazitäten?

Aber grundsätzlich ist der Großteil der Mitarbeiter mit großem Engagement an Bord, mit großer Solidarität füreinander. Das ist keine Schönrederei. Es ist wirklich sehr beeindruckend, wie sich alle Mitarbeiter/-innen, ganz besonders in der Pflege, momentan aufstellen und sagen „Wir machen das!“ Mit spontaner Freiwilligkeit auch für bislang andere Tätigkeitsfelder. Natürlich ist Corona 24/7, es ist klar, dass wir nicht an Feiertage denken momentan. Mitarbeiter werden geschult, um in der Not dort zu sein, wo sie im Regelgeschäft vielleicht gar nicht arbeiten.

Wie hoch ist die derzeitige Belastung für das Personal?

Es gibt natürlich Kollegen, die signalisieren, dass die Belastung sehr groß ist. Da spielen ja auch familiäre Zusammenhänge eine Rolle, die anders organisiert werden müssen. Kinder, die betreut werden müssen. Angehörige, die Pflege bedürfen. Medizinisches Personal hat ja genauso mit den Themen zu kämpfen, wie die anderen. Natürlich gibt es einige, die denken, das nicht stemmen zu können und dann nach Lösungen suchen und die Entscheidung für sich treffen. Aber der ganz große Anteil der Mitarbeiter/-innen ist füreinander da.

In den letzten Jahren wurden viele Gelder für den medizinischen Sektor gekürzt, Krankenhäuser privatisiert. Entsteht angesichts der jetzigen Situation nicht Ärger über diese kurzsichtige Perspektive?

In diesem Zusammenhang werden ja immer wieder die ITS (Intensivstationen)- Kapazitäten in Deutschland angesprochen. Das bestimmt aber in der „Alltagsstimmung“ nicht zwingend das Geschäft. Das ist eine Realität – wie entwickelte sich das in den letzten Jahren und wo sind wir jetzt angekommen?

Aber in dem Akutgeschäft und den Planungen, mit denen wir jeden Tag beschäftigt sind – „Wie viele Beatmungsgeräte stehen zur Verfügung? Ist die Technik so präpariert, dass Nachschub kommt? Ist das Personal so an Bord, dass in dem Schichtsystem abgelöst werden kann?“ -, in diesen ganz pragmatischen, wirklich lebenswichtigen Entscheidungen bestimmt das nicht die Stimmung, sondern hier werden alle notwendigen Ressourcen zusammengezogen und bereitgestellt. Das muss man ganz klar sagen.

In Italien und Spanien müssen Mediziner derzeit in vielen Fällen über Leben und Tod entscheiden. Wie sehr kommen die Pflegekräfte und Ärzte selbst an die Grenzen der physischen und psychischen Belastung?

Gerade die Pflegenden haben immer vor Augen, wie schnell alles zu Ende gehen kann und wie existenziell der Kampf gegen diese Krankheit ist. „Stecke ich mich an? Bin ich selbst gefährdet? Was passiert mit mir, wenn ich solche Patienten behandle? Es geht um Leben und Tod – was macht diese Situation mit mir im nächsten halben Jahr?“ – das sind reelle Sorgen. Es ist eine ganz komplexe und breite Thematik. Es wäre sehr limitiert, nur zu sehen, wie wir im Triage-System (Einteilung nach Schwere der Verletzung, Anm.d.Red.) funktionieren.

Ich glaube, das ist eine viel breitere Diskussion. Natürlich geht es da um Ethik in der Medizin, es geht um moralische Werte. Es geht um die neue gesetzliche Regelung zur Sterbehilfe und Entscheidungen in diesem Umfeld. Das ist etwas, das jetzt durch die Corona-Krise und diese Intensiv-Kapazitäten akut wird, aber man muss differenziert sein. Das ist kein Thema, das erst durch Corona auf den Tisch kommt. Es wird dadurch fokussiert.

Aber das Thema „Wie gehen wir mit unseren medizinischen Ressourcen um und wer bekommt wann was?“ ist seit einiger Zeit im Raum. Diese Frage können Mediziner auf keinen Fall allein entscheiden. Da sind auch Juristen mit im Boot. Es geht auch um philosophische und religiöse Fragen. Ich kann nur sagen, für die Medizin im engeren Sinne gibt es diese Ethik-Diskussion, wie in der Paliativmedizin (Behandlung von Patienten mit unheilbaren Krankheiten und deren Angehöriger, Anm.d.Red.) seit vielen Jahren.

Das ist eine Frage, die die Medizin bewegt und beschäftigt, eine große emotionale Herausforderung. Aber auch nicht unbekannt. Es verdient großen Respekt für die, die am Entscheidungsprozess beteiligt sind. Das, was jetzt mit den Bildern in Italien und Spanien ausgedrückt wird, ist natürlich eine Situation, in der diese Frage ganz anders entschieden wird, als wir es bisher gewöhnt waren. Sonst hat man sich etwa einmal im Monat zusammengesetzt in der Ethikkommission, es gab Anträge.

Jetzt scheint so etwas in der Notaufnahme entschieden werden zu müssen. Diese Dramatik ist natürlich eine Herausforderung. Wir sind aber in Deutschland momentan sehr bemüht, auch für solche Fälle Lösungen zu finden, dass nicht einer unvorbereitet die Entscheidung treffen muss. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, wenn junge unerfahrene Kollegen in so einer Situation alleingelassen werden Und diese Sorge scheint aktuell definitiv unbegründet.

Inwiefern gibt es eine psychologische Betreuung für das Personal?

Es gibt natürlich überregionale Hotlines und Krisentelefone z.B. von der Bundespsychotherapeutenkammer und einzelnen Klinikverbänden, die grundsätzlich erstmal eine psychologische Hilfe signalisieren. Ich denke, es ist wichtig, nach außen zu zeigen: „Wer eine Frage hat und in Not gerät, findet Hilfe.“ Das gibt es extern und intern.

In vielen Krankenhäusern wird für die Mitarbeiter ganz konkrete Hilfe innerhalb von 24 Stunden angeboten. Viele Pflegekräfte haben Sorgen, wie sie diese Situation bewältigen können und werden von psychologischen Kollegen betreut. Gerade diese externen Krisenhotlines werden gut in Anspruch genommen.

Aber auch intern gibt es ganz konkrete Fragen und eigene Ängste. „Wie geht man mit seiner Familie um, wie mit der Verantwortung?“ Es werden ganz unterschiedliche Dinge angesprochen. Da ist es wichtig, vorn vornherein und ganz selbstverständlich zu signalisieren, dass Hilfe da ist. Nicht erst, wenn die „große Krise“ kommt, sondern psychologische Kontakte parallel anzubieten.

Ist diese psychische Belastung zu bewältigen?

Das sind ja in aller Regel Mitarbeiter mit einem großen Erfahrungsschatz. Natürlich, wenn große Katastrophenfälle auf uns zukommen, kann es passieren, dass auch Hilfskräfte an „vorderster Front“ stehen. Aber momentan ist das nicht der Fall. Wenn bei den erfahrenen Kollegen Sorgen aufkommen, muss man auch auf deren Ressourcen zurückgreifen. Das sind Ärzte und Pflegekräfte, die schon verschiedene schwierige Situationen gemeistert haben.

Wohl nicht 800 Menschen auf einmal in der Notaufnahme, aber im Einzelfall sind das ja Menschen, die wir auf ihre eigenen Kompetenzen zurückbesinnen müssen. Das geht manchmal im Krisenmanagement verloren, weil man nur noch den akuten Fall und das Chaos sieht. Da ist es wichtig, in der psychologischen Begleitung zu erfahren: „Ich bin kompetent. Ich habe schon kritische Situationen gemeistert.“

Diese strukturierte Begleitung beruhigt und schafft auch wieder eigene Kompetenzen. Es ist auch ganz wichtig, die individuellen Belastungen außerhalb des Krankenhauses zu beachten. Oft werden die nicht angesprochen, weil sie als selbstverständlich zu bewältigen angesehen werden. Aber darauf muss man eingehen. Die Krankenhäuser haben momentan alle das Regelgeschäft runtergefahren. Das ist eine wichtige Initiative gewesen, die auch staatlich unterstützt wird, damit Personal auch für die Notfall-Betreuung freigesetzt werden kann.

Inwiefern spielt auch der Informationsfluss nach außen eine Rolle?

Gerade nach außen dringen die Botschaften, dass Masken und Schutzkleidung nicht ausreichen würden. Natürlich ist das etwas, das intern aufgenommen und organisiert wird und die Mitarbeiter beschäftigt. Ich nehme es aber so wahr, dass diese Sorgen, Nöte und Engpässe angesprochen werden. Es wird öffentlich nicht verheimlicht, an den meisten Häusern herrscht eine offene Kommunikationsstrategie. In Leipzig etwa wird zwischen den großen Häusern UKL, St. Georg und dem Helios-Klinikum sehr engmaschig kommuniziert und gemeinsame Absprachen getroffen.

Die aktuelle Situation ist aber natürlich eine nie dagewesene Herausforderung. Es wird überall im (negativen) Superlativ gesprochen. Alles steht still, überall auf der Welt. Wenn bei dem einen oder anderen einmal die Nerven durchgehen oder es Unmut gibt, ist das natürlich auch verständlich. Offene Kommunikation ist in der aktuellen Situation für alle Beteiligten nach „innen und außen“ absolut wichtig.

Gibt es auch Positives an dieser Krise?

Vielleicht ist das ein wenig plakativ, aber man kann schon sagen: „In der Not trennt sich die Spreu vom Weizen“. In Extremsituationen können wir alle unsere Solidarität unter Beweis stellen. Da sind Fragen wie „Wer ist an meiner Seite? Wer hält Kontakt mit mir? Welche gemeinsamen Lösungen gibt es? Wer wird in unserer Gesellschaft allein gelassen?“ Ich glaube, es hilft uns, wieder mehr im Blick zu haben, dass wir gemeinsam einen wichtigen Schritt gehen müssen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten ist die Individualisierung – so gut das an manchen Stellen auch ist – ein Stichwort der Stunde gewesen. Wer am schnellsten und schönsten ist und die wenigsten Makel hat, kommt nach vorn. Jetzt gilt: „Ich muss eben doch schauen, wen ich rechts und links mitnehme oder wer mich auch mitnimmt.“ Insofern fördern Extremsituationen Solidarität, zeigen aber auch, wo soziale Distanzen entstanden sind. Auf die müssen wir auch nach Krise einen kritischen Blick haben.

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