KommentarEgon Bahr (1922–2015), engster Mitarbeiter von Willy Brandt (1913–1992), konnte ihn damals nicht sehen, den Kniefall von Warschau vor 50 Jahren am 7. Dezember 1970. In seinen Erinnerungen (Egon Bahr, „Das musst du erzählen“. Erinnerungen an Willy Brandt, Berlin 2013) notiert er: „… vor uns eine Wand von Journalisten, als es plötzlich still wurde. Auf die Frage, was denn los sei, zischte einer: ‚Er kniet.‘“ (Seite 105)

Dieser 7. Dezember 1970 ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Gerade 21 Jahre alt, voller Euphorie der SPD beigetreten, an der Universität Heidelberg studierend und engagiert in der Studentenbewegung verspürte ich, als ich am Abend des 7. Dezembers die Bilder im Fernsehen sah, einen stillen, innigen Stolz: Dieser Willy Brandt, endlich Bundeskanzler, endlich einer, der nicht in die Naziherrschaft verstrickt war und mit dem ich mich identifizieren konnte, hat sich stellvertretend für Deutschland zur unermesslichen Schuld seines Volkes bekannt. Er ist vor dem Warschauer Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in die Knie gegangen und verharrte einige Momente in dieser Pose.

Damit hat Willy Brandt nicht nur den Weg bereitet für die Aussöhnung mit dem polnischen Volk (damals war es der erste Besuch eines Bundeskanzlers in Polen nach 1945). Er hat mit seiner Geste den mühevollen Weg zur europäischen Einigung geebnet. Brandt hat dies in einer Weise getan, die in dem Moment des Kniefalls keinen hämischen Zwischenruf, keine Beifallskundgebung, keinen einschränkenden, relativierenden Nebensatz zuließ und sich abseits aller protokollarischen Üblichkeiten bewegte.

Er selbst sagte: Der Kniefall von Warschau, den man in der ganzen Welt zur Kenntnis nahm, war nicht geplant. Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen; so gedachte ich der Millionen Ermordeter. (Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960–1975, Hamburg 1976, S. 525)

Mit Recht wird dieser Kniefall als Jahrhundertereignis gewertet. Denn Brandt hat (nicht nur hier) glaubwürdig miteinander verbunden, was leider viel zu oft auseinanderfällt: Politik und Moral. Historische Entwicklungen zu mehr Frieden, zu mehr Menschenwürde, zu mehr Demokratie können nur aus dieser Verbindung erwachsen.

Das Ganze geschah in der Anfangszeit der aus SPD und FDP bestehenden sozialliberalen Koalition. Sie war gerade ein Jahr im Amt, verfügte nur über eine knappe Mehrheit im Bundestag und sah sich einem Trommelfeuer der politischen Rechten und konservativer Medien vor allem der Springer-Presse ausgesetzt. Brandt war für viele ein Vaterlandsverräter, fünftes Rad am Wagen der Sowjetunion, „Willy Brandt an die Wand“ war ein Slogan der Rechtsextremisten.

Aber Willy Brandt und sein engster Mitarbeiter Egon Bahr hatten ein Gespür dafür, dass 25 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus die Zeit reif war für die neue Ostpolitik, für eine – damals heiß umstrittene – Anerkennung der sog. Oder-Neiße-Linie, also der nach 1945 Polen überlassenen Gebiete des „Deutschen Reiches“. Dennoch war die Bevölkerung in Westdeutschland, heute würde man sagen: tief gespalten. Laut einer im SPIEGEL im Dezember 1970 veröffentlichten Allensbach-Umfrage hielten 41 % der Bevölkerung den Kniefall für angemessen, 48 % meinten, diese Geste sei übertrieben.

Der damalige Chefredakteur der BILD-Zeitung und spätere Regierungssprecher unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Peter Boenisch kommentierte den Kniefall Brandts in der BILD am Sonntag am 13. Dezember 1970: „Dieses katholische Volk weiß, dass man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt die Knie. Das rührt das Volk. Aber rührt es auch die Opfer des Stalinismus?“

Abgesehen von der BILD eigenen Perfidie dieses Kommentars – offensichtlich ahnte auch ein Boenisch, dass Brandt mit seiner eindringlichen Geste die Deutschen in West und Ost tief berührt, ergriffen hat und – wie sich später zeigte – mit seiner Aussöhnungspolitik überzeugen konnte, aller Propaganda der BILD-Zeitung zum Trotz.

In einer Zeit, in der wieder die Relativierer der deutschen Schuld unterwegs sind und die politische Rechte vom „Kriegsschuldkult“ sprechen, ist es wichtig, dass wir an dieses Ereignis vor 50 Jahren erinnern: nicht um einer historischen Reminiszenz willen; vielmehr ist dieser Kniefall eine bleibende Mahnung zu einer dauerhaften Friedenspolitik, zum unbedingten Verzicht auf kriegerische Gewalt, zur europäischen Einigung.

Der Schriftsteller Navid Kermani sagte in seiner großen Rede zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai 2014 im Deutschen Bundestag:
Denn wann und wodurch hat Deutschland, das für seinen Militarismus schon im 19. Jahrhundert beargwöhnte und mit der Ermordung von 6 Millionen Juden vollständig entehrt scheinende Deutschland, wann und wodurch hat es seine Würde wiedergefunden? Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort ‚Würde‘ angezeigt scheint, dann war es … der Kniefall von Warschau.

Es sollte nicht nur für die Sozialdemokratie täglicher Ansporn sein, in diesem Geist auch heute die Außen- und Friedenspolitik zu gestalten und den Zusammenhang von Politik und Moral nie aus den Augen zu verlieren.

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