Beim „Spiegel“ können sie sich noch wundern. Beziehungsweise Florian Diekmann kann sich noch wundern, wenn er am 12. Februar seinen Artikel zu einer Untersuchung des DIW mit der Behauptung überschreibt: „Umfrage zur Straf-Debatte: Hartz-IV-Empfänger gegen Abschaffung von Sanktionen“. Wer würde auch behaupten, ein „Spiegel“-Wirtschaftsredakteur wäre von den Vorurteilen der Republik frei?

„Wer die Regeln bricht, bekommt weniger Geld – dieses Grundprinzip des Hartz-IV-Systems ist seit der Einführung immer wieder heftig umstritten. Was die einen als menschenunwürdige Unterdrückung empfinden, ist für die anderen ein notwendiges Mittel, um die Grundsicherungsempfänger zu disziplinieren und zu motivieren“, schreibt er, ohne dass irgendwo auch nur ein Anzeichen zu sehen ist, dass er das ironisch meinen könnte.Und etwas später: „Eine neue Auswertung zeigt, dass sich selbst unter den Empfängern der Grundsicherung wahrscheinlich keine Mehrheit für eine komplette Abschaffung der Sanktionen findet.“ Da taucht wenigstens das Wort „wahrscheinlich“ auf. Denn die „Umfrage“ ist nur ein Indiz, das in einem Diskussionspapier auftaucht, welches das DIW (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung) jetzt veröffentlicht hat: „Hartz-IV-Reformvorschlag: weder sozialpolitischer Meilenstein noch schleichende Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens“.

„Um die politische Debatte zu versachlichen, wird im Folgenden empirisch fundiert untersucht, wie sinnvoll es ist, die temporären Änderungen nach Auslaufen der Corona-Sonderregeln beizubehalten. Die Analyse von drei grundlegenden Reformpunkten der Grundsicherung zeigt, dass die dauerhafte Vereinfachung bei den Kosten der Unterkunft nur geringe Mehraufwendungen verursachen würde. Für die Abschaffung der Sanktionen würde hingegen die Akzeptanz, auch der betroffenen Hartz-IV-Beziehenden fehlen“, betonen die Autoren des Papiers.

Und nicht ganz grundlos taucht hier die Formel „Um die politische Debatte zu versachlichen“ auf. Denn wenn es um Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger geht, wird mit harten Bandagen gekämpft. Und zwar vor allem von denjenigen, die von Hartz IV profitieren. Und das sind nicht die Empfänger/-innen dieser Unterstützungsleistung, sondern diejenigen, denen dieses Instrument dabei dient, arbeitslose Menschen in jeden „zumutbaren Job“ zu bekommen, egal, wie miserabel die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung sind.

Das aber funktioniert nur, wenn sich die ursprünglich von der Hartz-Kommission gefundene Formel „Fördern und Fordern“ umdreht. Was in den Vorschlägen der Kommission nicht formuliert war. Denn egal, wie man den einstigen Manager Peter Hartz und die Arbeit in dieser Kommission bewertet – im Großen und Ganzen war sich diese Kommission darin einig, dass der Mensch weder von Natur aus faul ist, noch bereit, sich ein Leben lang in der „sozialen Hängematte“ auszuruhen.

Aber genau dieses Bild steckt in den Köpfen der meisten Deutschen, wenn sie denn mal zu Hartz-IV-Empfängern befragt werden.

So wie 2012, als der „Spiegel“ bass erstaunt feststellte: „Deutsche haben Vorurteile gegenüber Hartz-IV-Empfängern“.

Wie auch anders? Man könnte ein dickes Buch schreiben darüber, wie die Lobbyisten der großen „Arbeitgeberverbände“ in Deutschland gleich 2002 ihre Meinungsmaschinen anwarfen und Stimmung machten gegen die ursprünglich von der Hartz-Kommission vorgeschlagene Regelung bei der Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe. Die waren nämlich vorher getrennt. Aus gutem Grund.

Denn Menschen, die aus verschiedensten Gründen keinen Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt fanden, konnten natürlich auch nichts in die Arbeitslosenversicherung einzahlen, waren also komplett auf die Hilfe des Staates angewiesen und bekamen dafür Arbeitslosenhilfe. Gleichzeitig verfestigte das Instrument aber auch ihre Absonderung vom Arbeitsmarkt.

Einfach zur Erinnerung: Der Vorschlag Nr. 4 der Hartz-Kommission sollte genau diesen Menschen endlich einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Ihnen also positiv Türen öffnen. Eine Einladung. Aber genau das sahen die Parteien, die ihre Rolle im politischen Gefüge als reine Dienstbotentätigkeit für die Interessen der „Wirtschaft“ sahen und sehen als Einfallstor, ein teuflisches Bild zu malen: das Bild vom Faulpelz, der es sich jetzt auf einmal auf Kosten der Allgemeinheit bequem mache in einer Sozialleistung, die ihm ohne Anstrengung ein bequemes Leben ermöglichte. Das allbekannte Bild vom „Florida-Rolf“ machte wenig später Furore.

Und sie ließen auch keine Bundestagsrede aus, um nicht das alte, einst von Paulus formulierte Prinzip zu verkünden: „Wer nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen“. (Dass Paulus das etwas anders meinte und formulierte, kann man hier nachlesen.) Das sitzt in den Köpfen. Im Lutherischen Protestantismus wurde es geradezu als Arbeitsethos gepriesen. Und es wäre ein Wunder gewesen, wenn Empfänger von ALG II darüber anders denken würden als die Allgemeinheit. Was man natürlich aus den gläsernen Höhen des „Spiegel“ so nicht sieht. Das sieht man nur, wenn man sich hinabbegibt zu diesen Menschen, die tatsächlich glücklich sind, wenn ihnen eine gute und anspruchsvolle Tätigkeit angeboten wird.

Was übrigens auch schon 2012 eine Allensbach-Umfrage belegte, über die auch das Leipziger Rathaus berichtete, weil auch in Leipzig die Verunglimpfung der Menschen, die ALG II beziehen, damals tobte. Faule Medien reproduzieren das Bild vom ungebildeten und unwilligen „Hartzer“ immer wieder. Obwohl die genaue Betrachtung immer wieder zeigt, dass nur ein geringer Bruchteil der ALG-II-Empfänger diese Leistung dauerhaft empfängt. Die meisten sind nur einige Monate in „Leistungsbezug“. Und zwar nicht, weil sie Angst vor Sanktionen haben, sondern weil es die meisten Menschen nicht aushalten, nicht gebraucht zu werden und nicht über eine gute Arbeit in die Gesellschaft eingebunden zu sein. Arbeit stiftet einen Sinn im Leben.

Und sie schafft soziale Beziehungen. Wer es vorher nicht wusste, hat es mit den Corona-Lockdowns begriffen. Denn monatelang allein zu Hause sitzen? Das ist schon halb wie Gefängnis. Der Mensch braucht eine Sphäre da draußen, in der er erfahren kann, dass er gesellschaftlich akzeptiert und anerkannt ist.

Wie formulierte es doch der MDR nach einer Umfrage vor einem Jahr? „Etwa jeder fünfte Teilnehmer der Befragung hat selbst schon einmal Hartz IV-Leistungen erhalten und sich dabei vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen gefühlt. Das sagte fast die Hälfte aller betroffenen Befragten, rund jeder Dritte fühlte sich stark eingeschränkt. Dennoch sprach sich mit 95 Prozent eine überwiegende Mehrheit für das dem Sozialgesetz zugrunde liegende Prinzip ,Fördern und Fordern‘ aus. Wer Leistungen vom Staat bekomme, müsse dafür auch Gegenleistungen erbringen.“

Das heißt: Das lutherisch-deutsche Leistungsprinzip steckt auch den Menschen im Kopf, die schon mal in ALG-II-Bezug gelandet sind.

Denn: Es sind keine anderen Menschen als wir alle. Und Ostdeutsche wissen besonders gut, wie schnell man nach einem eher niedrig entlohnten Job in ALG II landet. Und weil die meisten dann alle Kräfte anspannen, so schnell, wie möglich wieder rauszukommen, verschwindet natürlich auch nicht das durchaus staatsbürgerliche Denken aus dem Kopf, dass die staatliche Unterstützung quasi durch eigene Arbeitsbemühungen erlangt werden sollte.

Auch wenn eigentlich in einer Gesellschaft wie der unseren jeder Mensch selbstverständlich ein Anrecht auf eine Grundsicherung haben sollte.

Aber seit die Initiativen für ein bedingungsloses Grundeinkommen an Wucht zugenommen haben, wird wieder – wie 2002 – darüber debattiert, ob das „gerecht“ ist. Als ginge es um Gerechtigkeit, wenn die einen eine gut bezahlte Arbeit haben und die anderen auf Unterstützung angewiesen sind, weil sie nicht gleich so eine tolle Arbeit finden. Und so viele tolle Arbeitsplätze auch nicht angeboten werden.

Aber worauf bezog sich eigentlich der „Spiegel“?

In der vorgelegten DIW-Betrachtung, in der es vor allem um die finanzielle Betrachtung der anstehenden Hartz-IV-Reformen ging (Kosten der Unterkunft, Vermögensprüfung, Abschaffung der Sanktionen) wurde auch auf mehrere Umfragen Bezug genommen, ob die Sanktionen abgeschafft werden sollten. Unter anderem eine Befragung von 2019, in der 62 Prozent der Befragten meinten, die Abschaffung ginge „in die falsche Richtung“. Sage niemand, dass sich die Deutschen keine Zuchtmeister wünschen. Denn wer so denkt, geht nun einmal davon aus, dass Arbeitslosigkeit zur Bequemlichkeit verführt. Es sei denn, da ist jemand überzeugt davon, nie im Leben einmal arbeitslos zu werden.

Unter den Jobcenter-Mitarbeiter/-innen lehnen sogar 87 Prozent die Abschaffung der Sanktionen ab. Das kann man extra diskutieren. Denn das hat auch mit dem Leistungssystem innerhalb der Jobcenter zu tun, wo die Mitarbeiter/-innen Planzahlen zu erbringen haben. Diese Berichte gab es in der Vergangenheit auch für den Leipziger Stadtrat. Stichwort: „Integrationsquote“.

Die Zuchtmeister haben wiederum ihre Zuchtmeister, die möglichst eine Planübererfüllung sehen wollen. Wer das als Sachbearbeiter nicht schafft, bekommt im Haus ein Problem.

Die Deutschen sind wirklich richtig ausgefuchst, überall solche „Leistungsanreize“ zu setzen. Und akzeptieren auch noch stillschweigend, dass das keine positiven sind, dass aus dem von Peter Hartz formulierten „Fördern und Fordern“ schon lange ein „Fordern und Gewähren“ geworden ist.

Das DIW schrieb zur Haltung der ALG-II-Bezieher (insgesamt 293 wurden 2020 im Jobcenter Recklinghausen befragt – die Befragung ist also nicht ansatzweise repräsentativ): „Eine vor kurzem abgeschlossene parallele Befragung offenbart zudem, dass ein Verzicht auf Sanktionen selbst unter den Leistungsbeziehenden nur von einer Minderheit von rund 38 Prozent begrüßt wird.“

46 Prozent meinten, die Sanktionen sollten ganz oder eher beibehalten werden. 16 Prozent hatten keine Meinung dazu. Die muss man eigentlich herausnehmen aus der Betrachtung, dann wird das Bild klarer. Dann sind es 45 Prozent derer, die eine Meinung geäußert haben, die (eher) für eine Abschaffung der Sanktionen sind.

„Für die Abschaffung der Sanktionen würde hingegen die Akzeptanz, auch der betroffenen Hartz-IV-Beziehenden fehlen“, meint das DIW. Und da wird es schwierig. Denn dazu reicht die Datenbasis nicht aus. Und es verstellt den Blick darauf, dass wir über Arbeit künftig ganz anders denken müssen, denn viele einfache Tätigkeiten werden durch die Computerisierung künftig wegfallen. Vollbeschäftigung im alten System, in dem ein Arbeitslosenheer geradezu als Druckmittel auf die Löhne gebraucht wird, wird es nicht mehr geben.

Das heißt: Viel mehr Menschen werden händeringend nach einer Arbeit suchen, die sie ausfüllen kann. Und da ist man beim Denk-und-Baufehler unserer Jobcenter, die eben so gebaut sind, als müsste der Mensch zur Arbeit gezwungen werden. Und als bräuchten wir nicht eigentlich eine Vermittlungsstelle, die Menschen unbürokratisch und ohne Peitsche hilft, eine Arbeit zu finden, die sie bereichert.

So betrachtet war natürlich auch die MDR-Befragung vor einem Jahr eine einzige Bestätigung arroganter Vorurteile, weil sie eigentlich nur das alte neoliberale Argument abfragte, ob Arbeit besser bezahlt sein sollte als Erwerbslosigkeit.

Wobei es der MDR fertigbrachte, das Anliegen regelrecht auf den Kopf zu stellen: „Zudem sind 84 Prozent der Befragten der Meinung, dass der Unterschied zwischen den Einkünften von Vollzeitbeschäftigten und Hartz-IV-Empfängern derzeit nicht groß genug ist.“

Was ja von den sogenannten „Arbeitgebern“ immer als Argument genutzt wurde, möglichst niedrige Hartz-IV-Sätze zu fordern. Denn je niedriger die sind, umso billiger kann man Jobs anbieten. Und umso höher ist sowieso schon der Druck auf die Leistungsbezieher, sich eine Arbeit zu suchen. Denn die bestehenden Hartz-IV-Sätze bedeuten – das bestätigen auch sämtliche Bürgerumfragen in Leipzig – echte Armut und in der Folge hohe Verschuldungsraten. Das Geld reicht eben nicht wirklich für ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe.

Aber die kleine Umfrage in Recklinghausen zeigt zumindest, wie sehr selbst die, die auf das kleine Geld angewiesen sind, das Trommelfeuer der großen Lobbyverbände verinnerlicht haben. Man hat den Zuchtmeister quasi schon im Hinterkopf sitzen. Was dann auch das Selbstbild formt: Wenn man nur aus Angst vor Sanktionen aktiv wird, sich eine neue Arbeit zu suchen, dann ist der Mensch wohl so, dann braucht er einen Zuchtmeister, der einen zur Arbeit zwingt.

Das ist natürlich der beste Zuchtmeister, den man sich wünschen kann, wenn man auch noch die schäbigsten Jobangebote besetzt bekommen möchte. Die Leute kommen dann ganz von allein und bieten sich an. Da hätte selbst der ägyptische Pharao gestaunt. Hätte er vielleicht mal drüber nachdenken sollen.

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Es gibt 2 Kommentare

Man kann das skandalisieren. Allerdings reicht ein Blick auf die journalistische Vita Diekmanns sowie die Ausrichtung des Instituts um zu erkennen woher der Wind weht. Das es solche Studien bis in die Chef – Etagen der größten Meinungsmagazine schaffen hat rein ideologische Gründe. In einigen Monaten steht nämlich die Rückzahlung der Pandemiekosten an. Und da Merkel bereits angekündigt hat, ihre schützende Hand über Krisengewinnler zu halten wird nun eben mal vorsichtig sondiert, in wiefern man die üblichen Sündenböcke – Flüchtlinge und Alleinerziehende gehören sicher auch dazu – aus dem Ärmel schütteln kann um die Gesellschaft weiter zu spalten und sozial zu erpressen. Spätestens nach der Bundestagswahl werden dann nämlich mit freundlicher Unterstützung der Grünen die noch vorhandenen Reste des des Sozialstats unter Verweis auf die schwarze Null manierlich sturmreif geschossen. Da helfen solche Studien natürlich ungemein.

300 Menschen befragt. Von rund 6 Millionen. Aha.
Und ausgerechnet in Recklinghausen. Wo man sich nur über Arbeit und Wohlstand definiert. Wo der “Potti” wirklich der Potti ist, wie man ihn aus Manta Manta kennt. Ohne dickes Auto und Eigentumswohnung geht da fast nix. Naja, vielleicht ein Klischee, aber so hab ich es vor einigen Jahren dort erlebt. War nur 1 Wochenende, aber ein bissel bekommt man da ja doch mit.

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