Zu den großen Selbst-Täuschungen der Bundespolitik zählt das Märchen von der Altersvorsorge. Kaum ein Thema macht deutlicher, dass hochbezahlte Menschen, deren Altersvorsorge durch den Staat gesichert ist, darüber entscheiden, wie die Nicht-Gesicherten für ihr Alter vorsorgen sollen. Ein Thema, mit dem sich auch die „Bürgerumfrage 2019“ erstmals beschäftigte.

Und auch die Statistiker/-innen im Leipziger Rathaus machen in ihrer Auswertung deutlich, dass sie nicht wirklich verstehen, wie Menschen über ihre Rente denken, die nicht mal einen Euro im Monat übrig haben, um damit die großen Versicherungskonzerne zu füttern. Dass man im Haus „Spiegel“ nicht mal begriffen hat, mit was für einer Unverschämtheit die Bundespolitik ausgerechnet die staatliche Rente zum Kürzungsinstrument gegenüber den schlecht bezahlten Prekär-Beschäftigten gemacht hat, war am 27. Januar wieder zu lesen.„Vor 20 Jahren änderte sich etwas Fundamentales in der deutschen Rentenpolitik: Seitdem gilt, dass die gesetzliche Rente nicht mehr den Anspruch hat, den Lebensstandard im Alter annähernd zu erhalten. Wer im Ruhestand ausreichend abgesichert sein will, muss zusätzlich privat und betrieblich vorsorgen. Allerdings zahlt bei weitem nicht jede und jeder in Deutschland etwa in eine private Absicherung ein – und die Große Koalition wird die (häufig unattraktive) Riester-Rente bis zur Bundestagswahl nicht mehr reformieren“, schrieb Florian Diekmann dort zur „Betriebsrente, die vor allem Gutverdienern hilft“.

Und wenn man dummerweise in einem der Jobverhältnisse gelandet ist, die die Bundespolitik ebenfalls vor 20 Jahren flächenmäßig ermöglicht hat und die in Ostdeutschland besonders gern umgesetzt wurden?

Pech gehabt.

Dann kommt man halt verdienstmäßig nie in die Bereiche, in denen deutsche Abgeordnete glauben, dass sie Normalverdienerbereiche sind.

Dann passiert das, was die Leipziger Bürgerumfrage 2019 erstmals an Zahlen sichtbar gemacht hat.

„Über alle Altersgruppen besorgniserregend ist allerdings der Anteil von rund 30 Prozent der Befragten, die finanziell bedingt keine Altersrücklagen bilden können und damit einem hohen Risiko von Altersarmut unterliegen.“

Kurz und knapp steht es da.

Oder auf gut Deutsch: Erst beim Gehalt niedergehalten und aufs Allernötigste herabgedrückt und dann auch noch mit einer erbärmlichen Rente abgespeist, die zum Leben nicht reicht.

Jeder dritte Leipziger / jede dritte Leipzigerin wissen, wie sich das anfühlt, wenn man am Monatsende statt einer hübschen Rate für die private Altersvorsorge nur ein Minus auf dem Konto hat und nicht weiß, ob man im nächsten Monat das Loch wieder gestopft bekommt.

„Auch im Rentenalter gibt gut ein Drittel der Befragten an, weiterhin Geld als Vorsorge zur Seite zu legen. Da dies insbesondere für ältere Rentnerinnen und Rentner zutrifft, wäre ein Erklärungsansatz, dass mit höherem Alter zunehmend Rücklagen für etwaige Pflegeaufwendungen gebildet werden. Diese Hypothesen können allerdings anhand der Fragen der vorliegenden Erhebung nicht weiterverfolgt werden“, gestehen die Autor/-innen zu.

Was auch egal ist.

Denn ihre Befragung macht sichtbar, dass das vor 20 Jahren von schlanken „Reformern“ ausgedachte Rentenmodell nur für Gutverdiener funktioniert. Wer den Bundesdurchschnitt der mittleren Nettoeinkommen nicht dauerhaft erreicht, guckt gleich zwei Mal in die Röhre – im Arbeitsleben und im Rentenalter.

„Die Befähigung zur privaten Altersvorsorge wird maßgeblich durch das zur Verfügung stehende Einkommen bestimmt: Weniger als die Hälfte der Personen mit einem persönlichen Nettoeinkommen unter 2.000 Euro spart regelmäßig Geld fürs Alter, während es bei besserverdienenden Befragten mehr als zwei Drittel sind. Dieser Befund ist insofern bedenklich, dass die staatliche Förderung privater Altersvorsorge besonders auf Geringverdiener/-innen abzielt und gerade diesen den Aufbau einer auskömmlichen Altersvorsorge ermöglichen soll“, schreiben die Autor/-innen des Berichtes.

Dumm nur, dass ausgerechnet die Geringverdiener/-innen nicht das nötige Geld für die geförderte Altersvorsorge verdienen.

Das nennt man wohl die mathematische Unfähigkeit einer Regierung, deren Mitglieder nicht einmal wissen, was man so im etwas ärmeren Deutschland verdient, wenn man „in jedem zumutbaren“ Job tätig ist.

Oder als Soloselbstständiger, der dann auch im Corona-Jahr schnell mal per Allgemeinverfügung in die Hartz-IV-Hilfe geschickt wird. Das Corona-Jahr hat sehr schnell sehr deutlich gezeigt, wer in Deutschland eine Lobby hat – und wer nicht.

„Das Vorhandensein eines Lebenspartners / einer Lebenspartnerin oder von Kindern im Haushalt erhöht dagegen die Neigung, Geld fürs Alter beiseitezulegen, vor allem aufgrund des im Mittel höheren Haushaltseinkommens“, filtern die Statistiker noch als Erkenntnis aus den Zahlen heraus.

„Besonders für Selbstständige, die häufig nicht in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, ist die private Altersvorsorge bedeutsam. Wie schon bei der Betrachtung des persönlichen Nettoeinkommens in Kapitel 2.1 zeigt sich auch bei der Altersvorsorge eine Kluft zwischen Selbstständigen mit und ohne Angestellten: 60 Prozent der Selbstständigen, die Angestellte beschäftigen, legen regelmäßig und weitere 10 Prozent gelegentlich Geld zurück. Dagegen sparen nur 35 Prozent der Solo-Selbstständigen regelmäßig und 10 Prozent gelegentlich Geld für den Ruhestand auf.“

Und warum zahlen sie nicht ein? Weil die Soloselbstständigen z. B. in Leipzig genauso miserabel honoriert werden wie die Billiglöhner.

Das ist ja ein Verdienst dieser Umfrage, die nun seit einigen Jahren belegt, dass die Einkommen der Soloselbstständigen erstens unterirdisch sind und zweitens auch noch fallen, weil die Auftraggeber (auch städtische Einrichtungen) ihre Honorargelder immer weiter kürzen.

1.344 Euro betrug das monatliche Nettoeinkommen der Soloselbstständigen in Leipzig 2019. Das liegt deutlich unter dem errechneten Median von 1.439 für alle Erwerbstätigen und auch deutlich unter dem Nettoeinkommen der einfachen Angestellten von 1.593 Euro.

Das ist zwar für Leipziger Verhältnisse „Mittelklasse“ – sie gehören damit schlicht nicht zu den ärmsten 20 Prozent. Aber sie gehören eben auch zu der Einkommensgruppe (800 bis 1.400 Euro), in der nur 26 Prozent sagen, sie würden etwas Geld fürs Alter zurücklegen (können), 39 Prozent aber sagen, sie können es nicht.

Was auch erklärt, warum viele (junge) Menschen lieber nicht den Beruf ergreifen, der ihnen am Herzen liegt und Erfüllung bringt, sondern lieber einen „Bullshit-Job“, der wenigstens die 2.000 Euro netto ergibt, mit denen man überhaupt erst einmal eine private Altersvorsorge aufbauen kann.

Arbeit wird also als so eine Art ökonomische Zumutung empfunden, die man 40 Jahre lang durchleiden muss, um dann im Alter nicht auf staatliche Alimente angewiesen zu sein. Was auch zur Folge hat, dass sehr viele zermürbende Jobs mit all ihren psychischen Folgen am Leben erhalten werden, von der Umweltschädlichkeit dieser Jobs ganz zu schweigen.

Und da muss man auch nicht lange nachdenken, wie sich diese 30 Prozent fühlen, wenn die Miete hochgeschraubt wird von Leuten, die wissen, wie man in Deutschland die Daumenschrauben anzieht.

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Es gibt 2 Kommentare

Die Sorge der Politiker um die Altersvorsorge ist genauso verlogen, wie das Gewäsch um die Gesundheit alter Menschen in der Corona-Krise. Was wahlkampfbedingt menschenfreundlich aussehen soll, entpuppt sich als das Gegenteil: Die geringe Wertschätzung der Lebensleistung alter Menschen und die komplette Ignoranz ihrer Bedürfnisse. Rentner benötigen keine Erhaltung des Lebensstandards, der sich bei den Statistikern aus den Bedürfnissen der Jungen errechnet. Und sie wollen auch nicht durch Isolation vor Krankheit geschützt werden, sondern am Leben teilnehmen! Alte Menschen brauchen eine ihren Lebensumständen angemessene und respektvolle Versorgung, die sie das Alter – soweit es eben geht – genießen lässt. Niemand kann ernsthaft erwarten, dass Menschen ihr Leben lang auf den Tag hinarbeiten, an dem sie alt sind und versorgt werden müssen. Die Aufgabe zur adäquaten und respektvollen Versorgung im Alter obliegt der Gesellschaft, die sich für das Geleistete auf diese Weise erkenntlich zeigt. Dass es Unterschiede je nach Geleistetem gibt – kein Problem! Aber ein würdevolles Alter, ohne vermeidbare Nöte (die unvermeidbaren kommen trotzdem) steht jedem zu! Eine private Altersvorsorge ist das Gegenteil davon: Sie lässt wieder einmal den sprichwörtlichen Teufel auf den größten Haufen scheißen…

“Was auch erklärt, warum viele (junge) Menschen lieber nicht den Beruf ergreifen, der ihnen am Herzen liegt und Erfüllung bringt, sondern lieber einen „Bullshit-Job“, der wenigstens die 2.000 Euro netto ergibt”

Diese in der Verwandtschaft erlebte Tatsache und die mittlerweile gewonnene Erfahrung, dass ein Großteil der Ausbildungen / Studienabschlüsse mittlerweile qualitativ abgerutscht sind (bspw. “Bachelor”, Hilfskräfte), sorgen für meine Verwunderung, wie in Deutschland das in Jahrzehnten aufgebaute Niveau gehalten werden soll.

-> die Leistungsqualität / Wirtschaftlichkeit von Handwerk und Industrie nehmen ab, wird sogar teurer
-> Unternehmungen in der Finanz- und Kapitalbranche verdienen (und zocken systemrelevant) mehr
-> Privatkapital vergrößert sich und wird dem Solidarkreislauf permanent entzogen
-> dieses Kapital fehlt in der Vorsorge / Absicherung und soll durch die prekär Beschäftigten zusätzlich erarbeitet werden, wenn sie nicht noch mehr Einbußen hinnehmen wollen

Das kann auf Dauer nicht funktionieren.
-> Bedauerliche Zukunft. Gesellschaftliches Erbe vergeigt. Durch falsche Politik.

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