Der Stammtisch ist ins Netz verlagert. Was früher in Kneipen, Küchen und so im kleinen Rahmen blieb, findet mittlerweile seinen Weg ins Netz. In das sogenannte „soziale“ Netz vor allem und so ist längst eine Art Öffentlichkeit entstanden, wie sie vielstimmiger nie war in der Menschheitsentwicklung. Was einerseits durchaus eine spannende Demokratisierung des Diskurses bedeutet, hat auch das verstärkt, was man für die Lösung von Problemen am wenigsten braucht: Abwertung und Hass. Doch da, wo man so etwas für Ehrlichkeit hält, kann man es auch noch auf der Straße antreffen.

Eine ältere Dame schaut durch die Regen-Fäden hindurch und mutmaßt unter dem Trockenen des Hotelvordaches heraus: „Da drüben hat sicher keiner einen Job“. Die umstehenden Männer, die hier ihren Beobachtungsposten bezogen haben, nicken, es gibt weitere Abwertungsversuche und Mutmaßungen, ob vielleicht doch irgendeiner eine Arbeit „da drüben“ hätte.Arbeit, das Synonym für vorgebliche Anständigkeit, den Wert eines Menschen, das Maß aller Dinge, seit in den 90ern auch hier in Bitterfeld mit der Umweltverschmutzung made in DDR viele Jobs über Nacht verschwanden. Und ein Abwehrversuch, denn das Thema Klimawandel stört hier eher, klingt ausschließlich nach Verzicht und neuen Sorgen.

So ist es befreiend, den menschlichen Anteil am Klimawandel zu modernem Hokuspokus zu erklären, wie auf Bestellung fährt ein Transporter mit AfD-Beklebung vorbei, während man hier noch grübelt, wie der Spruch „System Change, not Climate Change“ zu verstehen sei.

„Da drüben“, dass ist die Gruppe Schüler und Studenten, die sich am 9. Juli 2021 auf dem Robert Schumann-Platz unter der Fahne von „Fridays for Future“ in Bitterfeld vis a vis des „Hotel Central“ versammelt haben. Die örtlichen Aktivisten haben um Hilfe gerufen, denn anders als in den urbanen Großstädten wie Leipzig werden sie hier offen angefeindet, attackiert und von rechten Schlägern bedroht.

Während die langsam anwachsende Gruppe lebensweiser älterer Menschen vor dem Hotel an diesem Freitag 15 Uhr Zeit findet, ihre gewichtigen Kommentare über die eigentlichen, anderen Probleme auf der Welt auszutauschen, sind knapp 200 statt sonst 10 bis 20 Schüler/-innen zur Freitagsdemo der Fridays erschienen. Aus Braunschweig, Leipzig und anderen Städten, noch 2019 kamen allein aus der Gegend um Bitterfeld bis zu 5.000.

Doch die Coronapandemie hat auch das probateste Öffentlichkeitsmittel der Klimaaktivisten, den freitäglichen Schulstreik, obsolet gemacht und sie ein wenig aus der Öffentlichkeit verdrängt. Mit Ausfall des Präsenzunterrichtes entfiel auch der Streik, doch nun soll es wieder losgehen bis zum großen „Globalen Streik“ am 24. September, zwei Tage vor der Bundestagswahl.

Die weiteste Anreise aus Hamburg hatte wohl das bekannteste deutsche Gesicht der seit 2019 existierenden Klimabewegung, Luisa Neubauer, die nun mitten unter ihnen ist. (siehe Video-Interview, mit Auto- und Regengeräuschen)

Während sie sich mit den anderen durch den Dauerregen hindurch verständigt, läuft mal wieder ein Hashtag namens #LangstreckenLuisa gegen sie auf Twitter in die Charts. Auch, weil darunter viele gegenhalten, doch jedes Mal, wenn die 25-Jährige Aktivistin und Autorin einen TV-Auftritt hat, eskaliert der meist weiße, männliche Mob mit dem implizierten Vorwurf, sie würde schließlich auch ständig klimaerwärmend herumfliegen oder mit anderen Abwehrreflexen.

Ein Interview im Regenschutz und mit Geräuschen mit Luisa Neubauer (FFF). Video: LZ

Sie, die nach diesem Bild angeblich ständig um die Welt jettet, ist mit dem Zug nach Bitterfeld gekommen, Morgens halb sieben gings in Hamburg los, später geht es noch nach Leipzig. Was es mit ihr macht, mittlerweile schon persönliche Beschützer/-innen dabei haben zu müssen, fragen wir sie nicht – der eventuelle Grund dafür steht an diesem Tag keine 20 Meter von der sich langsam bildenden Demonstration der „Fridays for Future“-Gruppe entfernt.

Bereits von der massiv vertretenen Polizei beäugt, hat sich eine Gruppe von etwa acht bis zehn Männern gesammelt, auf die wohl am besten die Bezeichnung Dorfschläger passt. Darunter ein klassischer Stiernacken, der sich für einen Anführertyp hält, weil ihm zu viele aus Angst vor einer körperlichen Auseinandersetzung zu oft Recht gegeben haben.

Der Rest gerüchteweise Rechtsradikale aus der Gegend und Dessau, die ohne größere Wortmeldung versuchen, möglichst gefährlich auszusehen. Doch zum Schülerverprügeln wird es heute nicht kommen, die Polizei ist deutlich überzählig vertreten und so wird hier bald die erste Bierflasche geöffnet und seitlich mitgetrottet, als sich der Demozug Richtung Bahnhof in Bewegung setzt.

Dieses Mal geht alles gut zu Ende, die für Bitterfelder Verhältnisse klar zu linke Demo läuft mit „Alerta, Alerta-Antifaschista”-Rufen und Anti-Kohleabbau-Sprüchen gegen 16 Uhr durch eine verregnete, weitgehend menschenleere Innenstadt (Video 2). Die Bitterfelder selbst sind offenbar eher mit dem Auto drumherum unterwegs – auf der Bismarckstraße bildet sich binnen weniger Minuten ein veritabler, demobedingter Stau.

Irgendwer in der Blechlawine brüllt herum, er würde durch die Verspätung viel Geld verlieren, das würde eine Klage nach sich ziehen. Schmunzeln, ja, auch beim Journalisten. Die sinnfreie Klageandrohung scheint in Bitterfeld ein beliebtes Mittel zu sein, um Missfallen über etwas zu verdeutlichen.

Bereits während des allein wetterbedingt nicht einfachen Video-Interviews mit Luisa Neubauer in einem überdachten Hauszugang, folgte nach einem Handy-„Beweisfoto“ die Drohung, für die Nutzung seines „Grund und Bodens“ eine Klage zu bekommen.

Dass auch dies ein älterer, wenig weltläufig erscheinender Herr einheimischer Zunge war, mag man für Zufall halten. Dass er das Interview über eine sich anbahnende Klimakrise und die Möglichkeiten, diese zu verhindern, für politische Propaganda hielt, passte dann leider doch ins Bild.

Impressionen von „Fridays for Future“ in Bitterfeld. Video: LZ

Postscriptum

Deshalb ausdrücklichen Dank für das vernünftige und kluge Gespräch mit dem Hotelier des „Hotel Central“ und den Kaffee aufs Haus kurz danach. Auch hier gibt es Menschen, die sich über Gäste freuen und einen weiteren Blick als nur über den Robert Schumann Platz haben.

Bitterfeld ist nicht anders, nicht besser oder schlechter als viele Mittel- und Kleinstädte in Sachsen und Sachsen-Anhalt. Was nur die Länge des Weges zeigt, den die „for Future“-Bewegung auch in den größeren Städten noch zu gehen hat.

So auch heute, am 10. Juli 2021, wenn sie um 10 Uhr die erste Leipziger „KlimaFair“ auf dem Wilhelm Leuschner-Platz startet. Bis 19 Uhr werden dann unter anderem Luisa Neubauer als Co-Moderatorin, Wolfram Günther (Umweltminister Sachsen) und diverse Leipziger Spitzenkandidaten zur Bundestagswahl am 26. September 2021 auf der Bühne zu Gast sein.

Nahezu alle Umweltverbände Leipzigs sind zudem mit Ständen vertreten und die Leipziger Zeitung wird berichten.

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