รœber 100.000 Menschen, die in den vergangenen knapp zwei Jahren an oder mit dem Coronavirus verstorben sind. Zehntausende, die sich jeden Tag neu infizieren. Tausende, die in Krankenhรคuser auf Normal- und Intensivstationen wegen einer Corona-Infektion behandelt werden mรผssen.

Millionen Bรผrgerinnen und Bรผrger, die Tag fรผr Tag ihr Leben auf das Virus einzustellen versuchen, unendlich viele Gesprรคche, Diskussionen, Auseinandersetzungen รผber die richtigen MaรŸnahmen, zerstรถrte Existenzen. Dies alles anhaltend trotz Impfung und vieler VorsichtsmaรŸnahmen. Das Virus erweist sich als sehr resistent und wandlungsfรคhig. Und wir Menschen mรผssen erkennen, dass abseits aller vermeidbaren Fehler der politisch Verantwortlichen das Leben bedroht und unsere Mรถglichkeiten begrenzt bleiben.

Der Tod hat โ€“ fรผr wie lange? โ€“ seine Lauerstellung aufgegeben und stolziert ungeniert durchs Leben. Plรถtzlich werden wir gewahr, wie das Virus und die MaรŸnahmen, die es provoziert, unserer Persรถnlichkeit in einen angstbesetzten Stresszustand versetzt โ€“ allein schon deshalb, weil sich bis jetzt alle schnellen Lรถsungen als trรผgerisch erwiesen haben.

Vielleicht liegt aber die bleierne Verunsicherung, die sich wie ein Korsett um uns legt, auch daran, dass wir die Botschaft des Virus noch nicht wirklich verstanden haben. Kรถnnte es sein, dass das Virus uns zu Dreierlei veranlassen will:

  • aufmerksamer, bewusster, dankbarer zu leben, mehr auf das Ergehen des Nรคchsten zu achten, deutlicher zu erkennen, dass meine Art zu leben, zu denken, zu glauben unmittelbare Auswirkungen auf das Leben des Nรคchsten hat;
  • jetzt nicht nur in Sachen Infektionsschutz ungewohnte Wege zu gehen, sondern auch dem Klima, dem natรผrlichen Lebensraum einen Lockdown zu schenken und zu erkennen: Wir Menschen sind (nur) Teil der Schรถpfung. Mein Leben kann ohne nicht gedacht werden, ohne den globalen Gesamtzusammenhang zu sehen.
  • mehr auf den Urgrund alles Seins zu achten und zu erkennen, dass der Glaube an den aus ร„ngsten befreienden Gott allemal menschenzugewandter, vernรผnftiger, tragfรคhiger ist, als sich den derzeit vermehrenden totalitรคren Neu-Herren anzuschlieรŸen bzw. ihren Ideologien zu ergeben (das kann auch das eigene Ich sein) โ€“ nur um krampfhaft ein bisschen vermeintlich irdische Sicherheit zu ergattern.

Natรผrlich: Dem Menschen, der jetzt auf einer Intensivstation mit dem Tod ringt, der Intensivkrankenschwester, die ihrem Ethos folgt und รœberstunde um รœberstunde macht, helfen solche Gedanken zunรคchst wenig. Da sind medizinische Intervention und Rรผckenstรคrkung gefragt. Aber wir anderen, die (noch) nicht das Virus in uns tragen, sollten schon etwas weiter blicken als bis zum nรคchsten Impfzentrum โ€“ so wichtig es ist, dieses nicht zu รผbersehen und Halt zu machen.

Wir sollten die Adventszeit nutzen, um uns unserer Lebensfundamente zu vergewissern. Letztlich geht es in dieser Adventszeit um die zentrale Frage: Feiern wir die Menschwerdung Gottes oder klammern wir uns an die Gottwerdung des Menschen?

  • Das eine beinhaltet die gute Nachricht, dass Gott mit dem Kind in der Krippe mitten in diese Welt kommt und an jedem Brennpunkt des Lebens eine neue Perspektive aufzeigt. Diese nรคhrt sich aus dem, womit wir Gott verbinden: mit der Schรถpfung, seinem Schalom, mit Freiheit und Gerechtigkeit โ€“ aber auch damit, dass unser Wirken auf Erden Stรผckwerk und alles Leben endlich bleiben.
  • Das andere ist der immer neue Versuch gottgleicher, machtbesessener (meist) Mรคnner, sich mit Heilsversprechen im Diesseits die Menschen gefรผgig zu machen โ€“ immer auf Kosten anderer Bevรถlkerungsgruppen. Sie kรถnnen keine Freiheit gewรคhren und Pluralitรคt ertragen, weil sie damit ersetzbar werden. Also setzen sie alles daran, auf Lebenszeit agieren zu kรถnnen.

Genau so hat es sich vor รผber 2000 Jahren zugetragen: Das Kommen Jesu, der Advent Gottes geschah mitten in einer von zu Gรถttern mutierten Tyrannen beherrschten Welt โ€“ und das losgelรถst von allen Institutionen, Konventionen, religiรถsen Festlegungen. Auf einen solchen Advent sind wir jedes Jahr angewiesen โ€“

  • einen Advent, der unsere im Universum hilflos taumelnde Welt, auf der jede/r Einzelne/r ebenso haltlos taumelt, neu verbindet mit dem Gott, dem wir das Leben verdanken;
  • einen Advent, der zur Entzauberung und Entmythologisierung aller Macht beitrรคgt und die Menschlichkeit Gottes offenbart;
  • einen Advent, der uns immun macht gegen Verschwรถrungsmythen, nationalistischen Allmachtsphantasien und das eigene Selbst maรŸlos รผberschรคtzender Egomanie;
  • einen Advent, in dem sich Glaube als Ankunft und Aufbruch, als Kontemplation und Aktion verstehen kann.

In diesen Tagen lassen sich sehr, sehr viele Menschen impfen โ€“ und sie tun gut daran. Aber damit ist das Coronavirus nicht beseitigt. Wir werden weiter mit dieser Bedrohung und den davon ausgehenden Verunsicherungen unseren Alltag gestalten mรผssen.

Wir werden nicht umhinkommen, abseits aller virologischen, epidemologischen, medizinischen Notwendigkeiten und im Spannungsfeld der Verletzbarkeit und Endlichkeit des Lebens auf der einen und dem Machbarkeitsanspruch auf der anderen Seite unserem Leben Fundament und Orientierung zu verleihen.

Ohne Advent, ohne die Menschwerdung Gottes werden wir das schwerlich schaffen. Gut, dass wir im Advent an alte Erfahrungen anknรผpfen kรถnnen: โ€žNun komm, der Heiden Heiland โ€ฆโ€œ (Martin Luthers รœbersetzung des Gesangs von Ambrosius von Mailand um 386 n.Chr. โ€žVeni redemptor gentium โ€ฆโ€œ) โ€“ und das in einer sehr sรคkular gewordenen Gesellschaft.

Zum Blog von Christian Wolff: http://wolff-christian.de

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