Auch wenn ich mich in der Folge auf Stimmen aus den (Un)Vereinigten Staaten von Amerika berufe, noch ist es in Deutschland nicht so weit. Es gibt aber erste Anzeichen, dass Vertreterinnen und Vertreter der freiheitlich demokratischen Ordnung (FDGO) und Verteidigerinnen und Verteidiger des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland (GG) aufgerufen sind, immer höflich und dialogbereit zu bleiben. Die andere Seite darf unwidersprochen mit Unwahrheiten, Spekulationen und Behauptungen um sich werfen.

Darf man eine Lüge als solche benennen?

Fundstelle im Plenarprotokoll. Screenshot LZ
Fundstelle im Plenarprotokoll. Screenshot LZ

Es scheint so, als ob das nicht mehr möglich wäre. So zu sehen bei der 15. Sitzung des Deutschen Bundestages am 27. Juni 2025, da sagte Bundestagspräsidentin Julia Klöckner wörtlich:

„Ein Reinschreien ziemt sich hier nicht, schon gar nicht mit dem Wort ‚Lüge‘. In einer Demokratie sind unterschiedliche Positionen einfach unterschiedliche Meinungen und nicht Lügen. Und das will ich hier für dieses Parlament festhalten.“

Hier haben wir zum einen die Forderung nach Höflichkeit „Ein Reinschreien ziemt sich nicht“, ob man nun Zwischenrufe für unhöflich hält oder nicht, das ist Geschmackssache. Auf der anderen Seite wird behauptet, dass Positionen, auch eindeutig erfundene Falschbehauptungen, einfach Meinungen sind. Man sollte diese nicht als Lügen bezeichnen.

Scheinbar gibt es also auch im Bundestag schon „alternative Fakten“ oder „alternative Wahrheiten“, denen man nur höflich, wenn überhaupt, widersprechen darf.

An dieser Stelle muss gesagt werden, dass es mir nicht um den später folgenden Ordnungsruf an den Abgeordneten der Linksfraktion Pantisano, sondern um die grundsätzliche Ansage von Julia Klöckner geht.

In den Trumpschen USA wehren sich inzwischen Menschen gegen ebendiese Art des Umgangs mit Wahrheit und Lüge.

Stimmen aus den USA

So schrieb Jamelle Bouie, am 20.9.25 im Newsletter der New York Times, den Artikel „Die MAGA-Bewegung ist keine Debattiergesellschaft“ (The MAGA Movement Is Not a Debating Society). Darin beschreibt er Folgendes:

„Erinnern wir uns daran, dass der Vizepräsident während des Wahlkampfs sagte, er würde Geschichten erfinden – wie die falsche Behauptung, dass haitianische Einwanderer in Springfield, Ohio, die Haustiere ihrer weißen Nachbarn stehlen und essen würden –, wenn dies notwendig wäre, um die Aufmerksamkeit der Presse zu erregen. Wenn ich Geschichten erfinden muss, damit die amerikanischen Medien tatsächlich auf das Leiden des amerikanischen Volkes aufmerksam werden, dann werde ich das tun“, sagte Vance.

„Forderungen nach Dialog und Diskussion – nach mehr Begegnungen zwischen der professionellen Linken und der professionellen Rechten – sind sinnvoll, wenn Einigkeit über den Charakter der gesamten politischen Ordnung besteht. Wenn wir uns alle einig sind, dass wir Teil eines Wettbewerbs zwischen Gleichberechtigten sind – wenn wir die politische Gleichheit aller Gruppen und Völker als selbstverständlich ansehen –, dann können wir eine Vielzahl von Themen über ideologische Grenzen hinweg ohne Groll und unnötige Spaltungen diskutieren.“

Für Deutschland bedeutet der Passus „wenn Einigkeit über den Charakter der gesamten politischen Ordnung besteht“, dass beide Seiten die FDGO und das GG vertreten.

In einem Gastbeitrag, in der New York Times vom 24.9.25, schrieb die Autorin Roxane Gay unter dem Titel „Höflichkeit ist Fantasie“ (Civility Is a Fantasy):

„Aber Höflichkeit – diese Vorstellung, dass es eine perfekte, höfliche Art gibt, über gesellschaftspolitische Differenzen zu kommunizieren – ist eine Fantasie. In der Fantasiewelt der Höflichkeit praktizieren wir Politik auf die richtige Art und Weise, wenn wir bei Meinungsverschiedenheiten höflich bleiben. Wenn wir höflich sind, wenn wir unsere Vorurteile zum Ausdruck bringen, zeigen wir Respekt gegenüber Menschen, die wir eigentlich nicht respektieren und die uns im Gegenzug auch nicht respektieren. Das einzige, was zählt, ist die Darstellung.

In diesem Rahmen bedeutet Unhöflichkeit, sich nicht dem Hass zu beugen, sich zu weigern, jemanden höflich anzulächeln, der einen nicht als gleichwertig betrachtet, und sich zu weigern, die scheinbar unangenehmen Seiten seiner Persönlichkeit wegzuschneiden, bis nichts mehr übrig ist. Unhöflich zu sein bedeutet, auf Heuchelei und Fehlinformationen hinzuweisen. Es bedeutet, die Aussagen anderer Menschen mit ausreichenden Belegen genau zu würdigen und sie für ihre Worte und Taten zur Rechenschaft zu ziehen.“

Ja, eine Falschbehauptung als Lüge zu bezeichnen mag unhöflich erscheinen, es ist aber richtig und notwendig.

Gilt das auch für uns?

Ich meine ja, es gilt auch für uns hier in Deutschland. Wenn politische Akteure „alternative Fakten“ erfinden und verbreiten, dann muss man sie als Lüge titulieren. Wenn dieselben keinen Diskurs wollen, sondern ihre Meinung unwidersprochen verbreiten wollen, dann kann man nicht mehr diskutieren, man muss widersprechen – laut und deutlich. Höflichkeit ist dann auch nicht mehr angebracht.

Ja, wir brauchen den Dialog, die Diskussion und die Höflichkeit, aber nur wenn alle Seiten sich daran halten und wenn man eine Lüge auch als Lüge benennen kann.

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Es gibt 2 Kommentare

> “Ja, eine Falschbehauptung als Lüge zu bezeichnen mag unhöflich erscheinen, es ist aber richtig und notwendig.”
Unbedingt!

> “Hier haben wir zum einen die Forderung nach Höflichkeit „Ein Reinschreien ziemt sich nicht“, ob man nun Zwischenrufe für unhöflich hält oder nicht, das ist Geschmackssache”
Nein, das ist es nicht. Es gibt Orte oder Situationen, da gehört es sich nicht. Zum Beispiel in der Situation “Person am Redepult spricht zum Auditorium”. Wenn dort nicht das serielle Vortragen der Standpunkte eingehalten wird, gilt das antidemokratische Recht des Lauteren oder Konzentrierteren Redners. Ein Recht der Stärke letztendlich. Es ist nicht Geschmackssache, dies abzulehnen.

Mit der Titulierung Lüge, ob nun laut oder leise, ist es nicht getan. Wenn “alternative Fakten” offensichtliche Lügen sind also der Unwahrheit entsprechen, dann darf und kann man sich ruhig die Zeit nehmen mit sachlicher Argumentation und “ausreichend Belegen” diese zu widerlegen. Selbst wenn man sich ständig wiederholen muss, dass der Letzte es auch begreift, zu schreien ist kein Argument. Achso es gibt also einen Unterschied zwischen diskutieren und widersprechen, ist dieser eher qualitativ oder eher graduell ? Na dann mal ran an das Werk.

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