Vernachlässigungen und emotionale Misshandlungen von Kindern sind meist weniger offensichtlich und deshalb schwerer zu erfassen als körperliche Übergriffe. Sie sind aber wahrscheinlich ebenso schädlich für die Entwicklung von betroffenen Kindern. Im Interview erklärt der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Kai von Klitzing, dass Betroffene ein Leben lang Probleme mit der Regulation von Stress haben.

An der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig forscht er zu den langfristigen Folgen von Misshandlungen im jungen Alter und hat dazu kurz vor dem Weltkindertag am 20. September ein Fachbuch mit dem Titel „Vernachlässigung – Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern“ veröffentlicht.

Prof. von Klitzing, Sie schreiben in Ihrem Buch, emotionale Vernachlässigung ist für Kinder genauso schädlich wie körperliche Misshandlung. Wie lässt sich das in der Forschung herausfinden und messen?

Bei der Analyse der von unserer Forschungsgruppe an der Medizinischen Fakultät untersuchten Gruppe von 306 Kindern mit Misshandlungserfahrungen hat sich gezeigt, dass die emotionale Misshandlung bei weitem die häufigste Misshandlungsform ist, unter welcher die Kinder leiden. Hierzu gehören zum Beispiel wiederholte verbale Erniedrigungen wie „du taugst nichts“ oder „du Missgeburt“, die Missachtung elementarer emotionaler Bedürfnisse oder die Verweigerung jeglicher altersangemessener Selbstständigkeit.

Von den 129 Kindern, die auch über körperliche Übergriffe berichteten, hatten 126 gleichzeitig auch emotionale Misshandlungen und Vernachlässigung erlebt. Bei der Analyse der Folgeerscheinungen wie Depressionen, Suchterkrankungen, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist es deswegen schwierig herauszufinden, welche Misshandlungsformen schädlicher sind. Ich denke aber, dass auch körperliche Übergriffe ihre toxischen Wirkungen auf das Kind vor allem dann entfalten, wenn sie mit Lieblosigkeit und Herabwürdigung in der Eltern-Kind-Beziehung gepaart sind.

Im Rahmen der Studie „Analyzing pathways from childhood maltreatment to internalizing symptoms and disorders in children and adolescents“ (AMIS) wird an der Medizinischen Fakultät zur seelischen Entwicklung von Kindern nach stressvollen Lebenserfahrungen geforscht. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse bisher?

In der zweiten vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Phase unseres Verbundprojektes untersuchen wir, wie sich der mit Misshandlungen verbundene Stress langfristig auf die Entwicklung der betroffenen Kinder auswirkt. Unsere ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich die Stressregulation mit zunehmendem Alter der betroffenen Kinder deutlich verändert.

Misshandelte Kinder scheinen ihr biologisches Stresssystem dauerhaft herunterzuregulieren, was sie auf ihrem weiteren Lebensweg bei Herausforderungen des täglichen Lebens weniger flexibel macht. Dies kann dann zu Verhaltensproblemen führen, welche die Kinder sozial immer mehr zu Außenseitern macht. Dabei wird deutlich, dass nicht nur übergriffige Ereignisse wie zum Beispiel Gewalthandlungen in der Familie für das Kind extrem stressvoll sind.

Vielmehr stellt auch die Abwesenheit einer liebevollen Umwelt, auf die das Kind eigentlich angewiesen ist, eine chronische Quelle schwer verträglichen Stresses dar. Wir sehen aber auch, dass positive Beziehungserfahrungen außerhalb der Familie, wie beispielsweise mit einer engagierten Lehrerin, Freunden oder professionellen Helfern, eine deutliche Schutzwirkung entfalten.

Hieraus leiten wir mit der AMIS-Forschungsgruppe unser psychotherapeutisches Behandlungsprogramm iKET (individualisierte Kind und Eltern orientierte Therapie) ab, das wir aktuell in einer klinischen Studie evaluieren.

Welches sind die wichtigsten therapeutischen Prinzipien von iKET?

Nur die wenigsten misshandelten Kinder erhalten trotz ihres erheblichen Leidens in unserem Land eine ausreichende Psychotherapie. Dies liegt an der Unzulänglichkeit ihres Umfeldes, denn Kinder sind darauf angewiesen, dass ihre Sorgeberechtigten sie auch zur Therapie bringen.

Deshalb haben wir die erste Phase unseres strukturierten, circa sechs Monate dauernden Behandlungsansatzes sehr stark auf die Eltern ausgerichtet, um mit ihnen ein Arbeitsbündnis zu erarbeiten. Wo dies nicht gelingt, weil die Verhältnisse zu schlecht sind, sind wir auf die Zusammenarbeit mit den Mitarbeiter:innen des Jugendamtes und der im Rahmen des Kindesschutzes initiierten Erziehungshilfe angewiesen.

Wenn die Zusammenarbeit mit Eltern und der Jugendhilfe ausreichend etabliert ist, versuchen wir, den Kindern eine zeitlich begrenzte, aber verlässliche psychotherapeutische Beziehung anzubieten, in deren Rahmen sie ihre seelischen Wunden bearbeiten können.

Oft geht es auch darum, ihre verständliche Wut über die nicht erfahrene Liebe und Wertschätzung in weniger selbstzerstörerische, sondern in konstruktive Bahnen zu lenken.

Wie hat sich der Umgang mit psychischen Problemen von Kindern in den vergangenen Jahren verändert?

Sicher ist die Sensibilität gegenüber psychischen Problemen von Kindern höher geworden. Die Bereitschaft, Kinder in ihrer Bedürftigkeit, aber auch in ihrem seelischen Leiden wahrzunehmen und ihnen zu helfen, ist gestiegen. Trotzdem findet sich unsere Gesellschaft damit ab, dass mehr als zehn Prozent unserer Kinder nach wie vor in misshandelnden Lebensbedingungen aufwachsen.

Die Kinder zahlen dafür einen hohen Preis, nämlich ein deutlich erhöhtes, lebenslanges psychisches und körperliches Krankheitsrisiko. Aber auch die Gesellschaft zahlt dafür einen Preis in Form von erhöhtem Suchtmittelkonsum, Kriminalität, verschwendeten menschlichen Ressourcen und vermindertem Zusammenhalt.

Welche seelischen Einflüsse haben aktuelle Ereignisse wie die Corona-Pandemie oder der Krieg in der Ukraine auf Kinder?

Die Corona-Pandemie hat das Problem der Kindesvernachlässigung wie unter einem Brennglas zugespitzt. Besonders in der ersten Phase der Pandemie wurden bald die Kindergärten und Schulen geschlossen. Auch die Jugendämter und Sozialdienste stellten zeitweise ihre Hausbesuche ein.

Die Kinder durften sich ja noch nicht einmal auf dem Pausenhof treffen, wo man ihnen wenigstens eine warme Mahlzeit hätte anbieten können. Schon gesunde Kinder haben darunter gelitten. Diejenigen, die in einem vernachlässigenden Milieu leben, waren ganz auf sich gestellt. Nach der Wiedereröffnung haben wir dann in unseren Ambulanzen Kinder und Jugendliche gesehen, deren eh schon schlechte soziale Situation sich dramatisch zugespitzt hatte.

Gleichzeitig waren unsere Behandlungsmöglichkeiten durch die coronabedingten Kontaktregeln reduziert. Wir müssen diesen Auswirkungen im weiteren Pandemieverlauf und bei künftigen Pandemien einfach mehr Rechnung tragen. Welchen Effekt der Krieg in der Ukraine auf die Kinder hat, ist noch nicht wirklich abzusehen.

Eine steigende Kriegsgefahr zeigt sich beispielsweise in einer Zunahme von Angstsymptomen vor allem bei den Kindern, die ihre Sorgen nicht mit fürsorglichen Eltern teilen können. Die Kinder, die selbst im Krieg leben oder mit ihren Familien vor dem Krieg fliehen müssen, sind natürlich besonders betroffen.

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Zur Person: Kai von Klitzing ist Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Universität Leipzig und war langjähriger Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie, Psychotherapie, und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Leipzig.

Zusammen mit Dr. phil. Lars White leitet er an der Medizinischen Fakultät das Verbundprojekt AMIS. Kürzlich erschien sein aktuelles Fachbuch unter dem Titel: „Vernachlässigung – Betreuung und Therapie von emotional vernachlässigten und misshandelten Kindern“.

Das Interview führte die Medienredaktion der Uni Leipzig.

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