Wenn Wege verschwinden, sollte man misstrauisch werden. Aber wem sag ich das? Sind nicht genug Wege, die in meinen Wanderkarten dick und rot eingemalt sind, unter meinen Füßen verschwunden? Eben noch da, einfach fort? Was hab ich im Land des Vaters von Münchhausen anderes erwartet? Gänseschwärme, die mich zum Fliegen einladen? Bezopfte Reiter, die sich aus Sumpflöchern ziehen?

Braucht ja auch nur einer zu sein, der beschwingten Hufes vorbeigeritten kommt: “Sie suchen einen Weg, Herr Leu? Und glauben, hier müsste einer sein? Machen Sie es wie ich – nehmen Sie ihren Zopf und …”

Ich habe doch keinen, Herr Baron.

“Das nennt man Pech, mein Lieber.” Sagte er und hob sich samt Zopf und Pferd von dannen. Über ein Maisfeld, das Leo den Weg versperrt. Genau da, wo eigentlich ein Wegweiser hätte stehen müssen: “Leinemühle”. Ein ordentlicher Baron hätte sich zumindest durchgeschlagen. Leo aber ist keine Wildsau und läuft lieber querfeld, wie gewohnt, über eine wundergrüne Wiese, die natürlich – wie kann es anders sein – nach einer Weile verrät, warum sie so wundergrün ist: Sie ist bestens gedüngt. Vor gar nicht langer Zeit müssen hier ein paar fröhlich kauende Futterverwerter gestanden haben, Gras in Milch verwandelnd.

Ihre Erinnerungsstücke liegen herum, schön trocken, so dass dem Wiesenerklimmer zumindest kein Malheur geschieht. Dafür blühen allerlei gelbe Blumen. Und es summst und sirrt und flattert. Was Leo zum Wedeln zwingt. So ist die freie Natur.

So frei, dass sich die grüne Wiese weit aufbeult im Land. Oben, so sagt seine Karte, müsste der andere Wanderweg kreuzen. Es kreuzt auch was, schön geschottert und breit gefahren. Ein echter Feldweg mit allem drum und dran. Nur eins fehlt auch hier: ein Schild. So dass der wedelnde Wanderer mal wieder am Kreuzweg steht. Links sagt seine Karte. Doch links ist Stoppelfeld. Rechts ist ein Feldweg. Da sirren die Drähte und 54 malmende und wedelnde Milcherzeuger schauen Leo an, höchst interessiert. Hier kommt sonst tagsüber niemand vorbei. Und der hier – der schaut, sucht im Gras nach einem Schilderbaum, könnte ja sein, das fleißige Bauernvolk hat das Schild nur umgenietet, um schneller ernten zu können.

Nichts findet Leo. Nur geradeaus der Weg lädt ein – mit grünem Gras in der Mitte und dicken Zwetschgen an den Bäumen. Ein allerschönster Wanderweg, wenn auch ohne Schild. Aber so könnte man sich ja den kleinen Gottfried A. Bürger denken, wie er mit seinem Lateinbuch unterm Arm hinläuft nach Molmerswende, den Gallischen Krieg im Kopf oder eine zünftige Rede Ciceros: Ihr Römer und Landsleute!

Leo kommt so in Wald und Grund, es wird heimelig, wie man sich einen Wald vorstellt, wenn er anfängt und den Weg verschluckt, als würde der Weg da nun munter über Hügel und Gräbelein springen. Das macht er auch zwei Mal, dann ist er kein Weg mehr und wieder steht ein Wanderer im Wald, schaut stumm und verwirrt.

Hier müsste doch … Aber da war doch … und eben gerade …

Hört er nicht ein Pferd wiehern? Einen Jägermeister lachen? Ein paar Wölfe heulen?

Hört er natürlich nicht. Es summt und sirrt. Und was sich öffnet, ist eine neue grüne Wiese. Gut gedüngt. Ein bisschen steiniger als die erste. Aber das kümmert die Brummer und Summer und Sirrer wenig. Leo wedelt, versucht’s wieder querfeld durch Gras und Klee. Diesmal schauen ihn begeisterte Milchverwerter von rechts her an, kauen und käuen wieder und finden das äußerst interessant, was der Wanderer da anstellt auf der Suche nach dem verschwundenen Weg. Oder dem erhofften Ziel, das ja hier sein müsste. Er hat eindeutig den höchsten Punkt weit und breit gefunden. Er sieht alles, was zu sehen sein müsste.

Zu sehen sein müssten ein Bach, eine Mühle und der Kirchturm eines Dorfes namens Molmerswende.

Löse einer das Rätsel.”Du hast mich reingelegt”, murrt Leo. Und die wiederkäuenden Zuschauer wissen natürlich nicht, wen er damit meint. Hier war heute noch weit und breit kein Anderer, auch keiner mit Zopf. Nur der kleine, füllige Zeitgenosse auf zwei Beinen, der argwöhnisch den verdächtig nassen Fleck auf der Wiese umläuft. Es könnte ja der berühmte Sumpf sein. Hier weiß man ja nie. Und einen Zopf zum Wiederrauskommen hat er ja nicht. Eins nur steht fest an dieser Stelle: ein Molmerswende gibt es hier nicht.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es eine reine Erfindung eines fröhlichen Barons ist, ist ziemlich groß. Größer jedenfalls als die Chance, hier noch auch nur die Spur eines Weges zu finden. Es sei denn, die Wiederkäuer wissen was. – Da lang oder da lang, fragt ein frustrierter Leo die Rindviecher.

Da lang, brummelt die eine Hälfte.

Nö, da lang, brummelt die andere.

Seine Karte hilft ihm nicht weiter. Da, wo Molmerswende sein müsste, ist es nicht. Und das Flugblatt des Bürger-Museums hilft auch nicht weiter. Vielleicht hat es auch nur ein wohlmeinender Zeitgenosse dem Wandersmann in die Hand gedrückt, denn das Museum wird augenscheinlich wieder einmal saniert. Es gäbe sowieso nur eine Übergangsausstellung zu sehen. Und das Münchhausen-Zimmer wäre wohl auch gar nicht begehbar.

Da sucht man den Horizont doch lieber nach einem tollkühnen Jäger ab, der sich von einem Schwarm Gänse über den Berg tragen lässt. Leo schaut und lauscht. Doch er hört nur das Sirren und Summen, Zupfen und Malmen. Zuweilen auch ein freundliches Kladderadatsch.

Und er merkt schon beim Umdrehen, wie enttäuscht die Malmer und Zupfer sind, als sich die Attraktion des Tages entfernt. Über grüne Wiesen, durch einen dunklen Wald bis zu der Stelle, an der er wohl den falschesten aller vier Wege genommen hat: den in der Mitte.

Die Mitte lockt immer. Sie scheint der schönste Kompromiss. Aber was muss er nun feststellen: Die Regel bestätigt sich wieder. Wer den Kompromiss nimmt, und sei er noch so pflaumenbehangen, der landet im gut gedüngten Nirgendwo. Nur ein Trost bleibt einem da: Dass es vielleicht wirklich kein Dorf namens Molmerswende gibt und dort auch kein altes Pfarrhaus. Alles schön erlogen.

Nur vage sieht unsereiner noch einen Kerl in rotem Rock am anderen Ende aus Pansfelde herausreiten. Als hätt er einen Streich vollbracht. In Pansfelde an der Kreuzung steht noch das Schild, das mich in die Wiese schickte. Es zeigt noch immer in diese Richtung. Aber ich habe kein Pferd.

Dafür noch eine Schnitte im Ränzlein. So komm ich wenigstens wieder zurück über den Berg. Mit dem Weg, auf dem die Pferdeäpfel dampfen. Als wäre hier gerade wieder einer geritten. Den Berg rauf oder runter, in fröhlicher Hatz.

Es muss der Baron von Molmerswende gewesen sein.

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Morgen, so schwört sich Leo, wird er um dieses so romantisch sirrende Fleckchen einen ganz gewaltigen Bogen machen. Lieber sucht er die nächste Burg. Eine hat er nämlich noch.

Die elfte Karte:

“Mein liebes Mauseherz,

ich bin heil zurückgekehrt aus Münchhausen-Land. Vielleicht gibt es Molmerswende. Vielleicht sind sich die Dörfler auch spinnefeind und haben deshalb alle Wegweiser ausgerissen, damit keiner ins andere Dorf findet. Ich weiß es nicht. Ich weiß jetzt nur, dass man auf wundergrünen Wiesen nie niemals nie barfuß laufen sollte. Egal, wie sehr die Füße ächzen nach frischem Grün. Frisches Grün ist gefährlich. Zwetschgen liegen schwer im Magen.

Vielleicht ist es auch ein verschlepptes Heimweh. Ich werde es heute in der Abendstund mit einem Gläschen lindern. Oder zwei. Und dabei mit Fernfreude an mein Bählämmchen denken.

Dein Leo, der Einsame.”

www.gottfried-august-buerger-molmerswende.de

www.mansfeld.eu/?p=molmerswende

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