Erwachsene mit Behinderungen haben in der Corona-Krise besonders zu leiden, weil sie meist dauerhafte und intensive Betreuung benötigen und viele Angebote in der derzeitigen Lage weggefallen sind. In den vergangenen Tagen haben die Mitarbeiter des Medizinischen Zentrums für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) sich der Sorgen dieser Menschen telefonisch angenommen. Der Telefonmarathon hat sich gelohnt. Neben Mut machenden Gesprächen konnten auch kritische Fälle entdeckt werden.

„Alle reden – völlig berechtigt natürlich – von geschlossenen Kitas und Schulen und den erheblichen Belastungen, die durch die Corona-Krise auf berufstätige Eltern lasten“, sagt Wolfgang Köhler, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie des UKL und Leiter des MZEB Leipzig. „Doch wie geht es eigentlich Menschen mit schweren Behinderungen und deren Familien“, fragt er.

Betreuungseinrichtungen und Werkstätten für Behinderte könnten ihre Arbeit nur mit Notbetreuung fortsetzen, Wohnheime hätten verschärfte Besucherregelungen, ambulantes Wohnen könne nur noch eingeschränkt betreut werden und Pflegedienste stünden vor enormen hygienischen Herausforderungen, erläutert Oberarzt Köhler.

Auch die Versorgung durch das MZEB Leipzig sei zurzeit nur in ganz besonders kritischen Fällen möglich. „Wir versuchen, trotz allem den Kontakt zu unseren Patienten und ihren Familien durch regelmäßige Telefonate aufrechtzuerhalten. Die Menschen sind darüber außerordentlich dankbar und fühlen sich ernst genommen. Wir wollen verhindern, dass gravierende Probleme unerkannt entstehen und dabei helfen, dass wenigstens kleine Probleme auch gelöst werden können.“

Erwachsene Behinderte werden nicht selten von Familienmitgliedern in höherem Lebensalter betreut, die so selbst zu einer Corona-Risikogruppe gehören. Andere Betreuer sind im „Home-Office“ und haben es jetzt besonders schwer, die akute Versorgung der erwachsenen, doch körperlich und geistig behinderten „Schützlinge“ sicherzustellen. Hinzu kommen finanzielle Sorgen der Betreuer und betreuenden Angehörigen vor Kurzarbeit oder sogar die Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle.

Für die Menschen mit Behinderung selbst bestehen zusätzliche gesundheitliche Risiken: Geplante Diagnostik und Therapien können häufig nicht wahrgenommen werden, das führt häufig zu therapeutischen Rückschritten. Für Betroffene ist dies in vielen Fällen schwer zu verstehen, da oft Informationen in leichter Sprache fehlen, der Kontakt zu Bezugspersonen in den Einrichtungen fehlt,  Assistenten oder Nachbarschaftshilfen wegfallen.
„Unsere Telefongespräche haben aber auch gezeigt, dass Betreuer und Eltern mit großem Engagement und oft unter Einsatz persönlicher Opfer die Versorgung der Betroffenen aufrechterhalten. Die Hilfsbereitschaft ist großartig! Leider wird das in der Öffentlichkeit überhaupt nicht wahrgenommen”, sagt MZEB-Sozialarbeiterin Brit Froebrich-Andreß, “Wir sind froh, dass wir auch helfen können, die Situation zu meistern.“

Eltern betreuen schwerbehinderten Sohn rund um die Uhr

In kritischen Fällen sind unter Einhaltung der hygienischen Sicherheitsvorkehrungen auch während der vergangenen Wochen persönliche Vorstellungstermine am UKL möglich gewesen, gerade bei akuten Problemen.

Bei Marcel Siebert gab es ein solches Problem. Der 36-jährige Leipziger leidet an einer schweren Form der Leukodystrophie. „Marcels Erkrankung führt zu einem stetig fortschreitenden Zerfall des Gehirns“, erklärt Oberarzt Köhler. Die Ursache für seine Krankheit ist noch immer unklar. Er sitzt im Rollstuhl, kann sich kaum bewegen und fast nicht mehr sprechen. Seit Wochen ist Marcel nun zu Hause, wo ihn seine Eltern betreuen. Die pädagogische Tageseinrichtung für Erwachsene, in der er sonst tagsüber beschäftigt und gefördert wird, musste wegen der Corona-Krise schließen.

„Nach unserem Anruf bei seiner Familie war klar, wir müssen Marcel dringend sehen“, berichtet Köhler. Marcel konnte seinen Speichel nicht mehr schlucken, unentdeckt kann daraus eine Lungenentzündung entstehen. Mit Vater Uwe Siebert ist Marcel nun zur gezielten Behandlung seiner Schluckstörung ans MZEB gekommen.

Seine Eltern betreuen ihn seit vielen Jahren rund um die Uhr. „Es ist eine extreme Belastung, aber wir kommen zurecht“, sagt Uwe Siebert. „Ist Marcel sonst in der Tagesbetreuung, haben wir zumindest auch mal ein wenig Zeit für uns, das ist nun weg. Zum Glück können wir uns in unserem Garten bewegen“, erzählt der Vater.

Über die Jahre schritt die Krankheit bei Marcel Siebert immer weiter fort. „In einem weltweiten Netzwerk tauschen wir Erkenntnisse über unklare Myelin-Erkankungen aus“, berichtet Wolfgang Köhler, „wir versuchen, auch in Marcels Fall doch noch die Ursache für seine Krankheit zu finden“, hofft der UKL-Neurologe.

Auf eine baldige Erleichterung ihrer Situation hoffen indes auch die Eltern von Marcel. Bis dahin tauschen sie sich in ihrer Selbsthilfegruppe mit den Eltern anderer Betroffener aus.

Die neue Leipziger Zeitung Nr. 78: Wie Corona auch das Leben der Leipziger verändert hat

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