Das Bundesverfassungsgericht hat die umstrittenen Hartz-IV-Sanktionen am Dienstag grundsätzlich für verfassungsgemäß erklärt. Jedoch beschränkten die Karlsruher Richter in ihrem Grundsatzurteil die Sanktionspraxis. Die aktuelle Gesetzeslage sei in Teilen verfassungswidrig. Ab sofort dürfen die Jobcenter die Regelleistung nur noch um höchstens 30 Prozent kürzen. Unzulässig seien außerdem starre Sanktionen, die den Einzelfall außer Betracht ließen.

Der Staat darf das soziokulturelle Existenzminimum seiner Bürger weiterhin verkürzen. Die Koppelung staatlicher Leistungen an Mitwirkungspflichten sei verfassungsgemäß, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag. Aber: Die Sanktionen müssen immer den jeweiligen Einzelfall im Blick behalten. Das tat die bisherige Rechtslage nicht. Wer ein Jobangebot abgelehnt hat, erhielt pauschal die kommenden drei Monate 30 Prozent weniger Geld. Völlig unabhängig von den Umständen der Gründe, die den Leistungsempfänger zu seiner Entscheidung bewogen haben.

Lehnte dieser das nächste Angebot ab, folgte die nächste Sanktion. Diesmal in Höhe von 60 Prozent. Stellte sich der Betroffene weiter quer, durfte im Extremfall sogar die Einstellung sämtlicher Zahlungen erfolgen. Dieser Praxis erteilten die Karlsruher Praxis eine entschiedene Absage. Die Kürzung um mehr als 30 Prozent sei unverhältnismäßig.

Die bloße Annahme, der Leistungsbezieher verhalte sich angesichts der Härte in Zukunft rechtskonform, könne eine derartige Sanktion aus heutiger Sicht nicht mehr legitimieren. „Je länger die Regelungen in Kraft sind und der Gesetzgeber damit deren Wirkungen fundiert einschätzen kann, desto weniger darf er sich allein auf Annahmen stützen. Auch muss es den Betroffenen möglich sein, in zumutbarer Weise die Voraussetzungen dafür zu schaffen, die Leistung nach einer Minderung wieder zu erhalten“, so das Gericht.

Mit dem Grundgesetz unvereinbar seien die Sanktionen zudem, soweit der Regelbedarf bei einer Pflichtverletzung auch im Fall außergewöhnlicher Härten zwingend zu mindern sei und soweit für alle Leistungsminderungen eine starre Dauer von drei Monaten vorgegeben werde. Damit die über fünf Millionen Hartz-IV-Empfänger sofort von der Rechtsprechung profitieren, haben die Richter die bisherigen Vorschriften mit entsprechenden Maßgaben bis zu einer Neuregelung für weiter anwendbar erklärt.

Das bedeutet: Legen Betroffene gegen einen noch nicht rechtskräftigen Sanktionsbescheid Widerspruch ein, muss das Jobcenter bei seiner Entscheidung das heute ergangene Urteil bereits berücksichtigen.

BVerfG, Urteil vom 5. November 2019 – 1 BvL 7/16

Nachtrag der Redaktion. Im Laufe des Tages erreichte uns eine erste Einschätzung des Urteils durch den Tacheles e.V. zum Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, welche wir hiermit an den Beitrag anfügen.

„Wir begrüßen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom heutigen Tag, wonach die bestehende Sanktionsregelung zum großen Teil als verfassungswidrig anzusehen ist und in der bestehenden Form nicht mehr angewendet werden darf. Der Schutz des menschenwürdigen Existenzminimums muss nach unserer Auffassung in jedem Fall sichergestellt sein. Das betrifft nicht nur die vom Verfassungsgericht als grundgesetzwidrig beurteilten Sanktionen in Höhe von mehr als 30% des Regelbedarfs.

Es schließt für uns auch eine Sanktionsmaschinerie aus, die starr und quasi automatisch abläuft und weder Ermessen noch eine Härtefallregelung kennt und bei der praktischen Umsetzung das Nachholen einer versäumten Mitwirkung nicht honoriert. Zudem dürfte das Urteil indirekt auch das Aus für die besonders scharfen Sanktionsregelungen für unter 25-Jährige bedeuten.

Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist daher als eine Ohrfeige für diejenigen Politiker und Politikerinnen sowie die Parteien anzusehen, die „Hartz IV“ beschlossen und seit rund 15 Jahren verteidigt haben.

Zurzeit bekommen dies jedes Jahr rund 8% aller betroffenen Arbeitslosen im Bezug von Leistungen nach dem SGB II zu spüren. Für sie bedeutet dies eine lang andauernde Unterschreitung des Existenzminimums. Die materiellen und psychischen Folgen sind in der Regel verheerend. Hunger, Angst, Depressionen, massive Verschuldung und auch der Verlust der Wohnung drohen.

Gerade jüngere Arbeitslose resignieren und brechen oft jeden Kontakt mit dem Jobcenter ab. Aus Angst vor Sanktionen nehmen Betroffene fast jede Arbeit an. Dies begünstigt prekäre Arbeitsverhältnisse, niedrige Löhne und miese Arbeitsbedingungen für alle Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.

Im Namen des Bündnisses „Auf Recht bestehen“ fordern wir daher, dass das bestehende Sanktionssystem im SGB II abgeschafft wird. Wir fordern die Bundesregierung und die im Bundestag vertretenen Parteien auf, umgehend entsprechend tätig zu werden. Dafür reicht es allerdings nicht aus, die Vorgaben des Verfassungsgerichts nur insoweit umzusetzen, wie es verfassungsrechtlich unbedingt geboten ist.

Nur weil das Bundesverfassungsgericht die Sanktionen nicht vollständig abgeschafft hat, folgt daraus nicht, dass das Sanktionsregime überhaupt aufrechterhalten werden muss. Im Einklang mit dem Bündnis für ein menschenwürdiges Existenzminimum fordern wir, dass an die Stelle der geltenden Sanktionsregelungen ein menschenwürdiges System der Förderung und Unterstützung von Alg-2-Berechtigten treten muss.“

Für das Bündnis Auf Recht Bestehen, Frank Jäger, Tacheles e.V. und Rainer Timmermann, KOS

Erklärt das Bundesverfassungsgericht Jobcenter-Sanktionen endgültig für menschenunwürdig?

Erklärt das Bundesverfassungsgericht Jobcenter-Sanktionen endgültig für menschenunwürdig?

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Ein Schlag ins Gesicht des Grundgesetzes und der vom BVerfG bestätigten Ansicht, dass ein Mindestmaß zur Existenzsicherung nicht unterschritten werden darf. Teilhabe nicht nur im Sinne von Nahrung, sondern auch soziokulturelle Teilhabe müssen möglich sein.
Ein vom Gesetzgeber klar definiertes Mindestmaß. nichts anderes sind Grundsicherung für Arbeitsuchende und Grundsicherung für Rentner und erwerbsgeminderte Personen, haben wir bereits in Form von ALG2 und Grundsicherung. Dieses Mindestmaß ist, wie Wohlfahrtsorganisationen und Wissenschaftler seit 2005 immer wieder bemängeln, um rund 150€ zu niedrig. Und von einem viel zu niedrigen Existenzminimum sollen 30% gekürzt werden dürfen?
Da hat sich das BVerfG wohl ein Eigentor geschossen.
Zumindest die Glaubwürdigkeit hat das BVerfG damit verspielt, hat vielmehr wieder einmal klar gezeigt, dass die Verzahnung der Politik mit der Wirtschaft über die Judikative hervorragend klappt. Deren Lobby braucht auch weiterhin zu allen prekären Schandtaten bereite regelmäßig in Angst und Schrecken zu versetzende Arbeitslose, um den Druck auf die Festangestellten nicht nachzulassen

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